zum Hauptinhalt
Tauwetter in Berlin.

© dpa

Hundehaufen, Böllerreste, benutzte Kondome: Was unter dem Schneematsch hervorkommt

Pascale Hugues macht sich auf die Suche nach dem Plunder, den die Schneeschmelze zutage gefördert hat. Und die Geschichten dahinter.

Die Erderwärmung, die uns seit einigen Tagen diesen vorzeitigen Frühling beschert, ist ein Segen für Sammler, Archäologen und chronische Nostalgiker, die davon träumen, die Zeit einzufrieren. Dieses plötzliche Temperaturhoch hat im Schnellgang die vereiste Schneedecke geschmolzen, die unsere Stadt bedeckte.

Haben Sie gemerkt, was sich jetzt da unter ihren Stiefelsohlen so alles abspielt? Seit einigen Tagen sind die Straßen, die Trottoirs von Berlin übersät mit den unterschiedlichsten Dingen: Verpackungen von Silvesterknallern, Zigarettenstummel, Hundehaufen, diverser Unrat, benutzte Kondome, die letzten Weihnachtsbaumskelette… Aus ihren Eisschatullen befreit, haben sie sich wieder an die Stadtoberfläche gekämpft. Man wartete fast darauf, eines schönen Morgens, mitten auf der Kreuzung vor der Haustür, über Ötzi zu stolpern.

Eine englische Freundin besuchte mich im Januar in Berlin. Höflich und zurückhaltend, wie die Engländer sind, hat sie darauf verzichtet, auch nur einen einzigen Kommentar dazu zu machen - während der ganzen Woche ihres Aufenthalts. Ich sah aber genau, wie sich ihre Miene von Tag zu Tag verfinsterte, eine kleine, angeekelte Schnute sich immer öfter über ihre Lippen legte.

Durch die hygienistische Brille

Dann, am letzten Tag, kurz bevor sie erleichtert den Heimflug nach London antrat, platzte es aus ihr heraus: Disgusting! Horrible! Filthy! Wie kannst du hier leben? Ich habe noch nie in meinem Leben eine so abstoßende Stadt gesehen! Gibt es hier denn keine Stadtreinigung? Meine Freundin ist genau im Moment der Eisschmelze in Berlin angekommen und konnte ihren Augen nicht trauen.

Man kann natürlich eine solche hygienistische Perspektive einnehmen. Brüllen, dass Berlin schmutzig ist! Dass das eine Schande ist! Dass die Menschen bestraft werden müssten, wenn sie ihren Müll auf offener Straße verteilen! Und dass der Senat seine Arbeit nicht macht, weil er den ganzen Plunder wochenlang auf der Straße vergammeln lässt. Man kann aber auch in diesem auf den ersten Blick wertlosen Trödel tausende kleine Proust’sche madeleines erkennen, die uns die Vergangenheit nahebringen können. Oh, und ich höre Sie schon protestieren: Einen Haufen von einem Berliner Köter mit dem Feingebäck von Marcel Proust vergleichen! Frechheit!

All dieser Plunder enthält Erinnerungen

Aber hören Sie doch nur einmal hin, was die Stadt uns für Geschichten zuflüstert: Was wollen uns diese Haarspange und dieser verlorene Ohrring sagen? Dieser zerknüllte Einkaufszettel neben dem Mülleimer? Das Weihnachtslametta in der Abflussrinne?

Jedes dieser Strandgüter ist ein Souvenir: Die verrückte Silvesternacht mit seiner enthusiastischen Böllerwerferei. Die Zigarette, vor einem Restaurant geraucht, mit krummem Rücken und tippelnden Füßen, um der Kälte entgegenzuwirken. Wieder und wieder das Gassigehen um den Block, damit sich der Stadthund erleichtern kann. Das knisternde Granulat, das an die verwunschene Landschaft erinnert, als der nächtlich gefallene Schnee nach dem Aufwachen plötzlich dalag. Die schrumpeligen Platanenblätter, die an den so schönen Herbst erinnern. Und was für ein Fund, diese kleine an einen Baum gelehnte Wasserflasche. Ein Mann hat sie wohl in Eile dort hingelegt, ist nach einer lauen Herbstnacht hastig auf sein Fahrrad gestiegen und hat sie dort vergessen.

Irgendwann kommt dann doch die BSR

Aber wenn Sie meinen Fantastereien wissenschaftliche Argumente vorziehen: Diese Ausgrabungen erlauben eine präzise Lektüre der Ernährungsgewohnheiten von Berliner Bürgern: Coffee-to-go-Becher, fettiges Döner- und Hamburgerpapier.

Wie es auch sein mag, die Vergangenheit ist auf den Straßen eingeschrieben. Auch die schlechten Erinnerungen sind nicht tilgbar. Und das kann auch beunruhigend sein. Bis eines Tages im Morgengrauen die breiten Besen der Berliner Stadtreinigung mit Donnergrollen anrollen, alle Scheinwerfer auf die schlafende Straße geworfen. Sie schlucken, häckseln, vernichten. Wenn sie fertig sind, wird Berlin wieder sauber sein und bereit für ein neues Leben.

Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false