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Meinung: Holocaust: Kein Grund zu klagen

Jeden Abend zur besten Sendezeit läuft ein Werbespot über die amerikanischen Fernsehsender. "Fühlen Sie sich als Opfer einer medizinischen Fehlbehandlung?

Jeden Abend zur besten Sendezeit läuft ein Werbespot über die amerikanischen Fernsehsender. "Fühlen Sie sich als Opfer einer medizinischen Fehlbehandlung?", fragt eine tiefe Männerstimme. Dann wird eine Telefonnummer eingeblendet, sowie der Name der Rechtsanwaltskanzlei, die den Spot geschaltet hat. Jeden Abend zur besten Sendezeit werden auf diese Weise Mandanten angeworben und Klagen vorbereitet.

Rechtsanwälte profitieren vom Leid anderer Menschen. Ebenso wie Ärzte dürfen sie in den USA für sich Reklame machen. In einem Land, in dem sogar eine Präsidentschaftswahl vor Gericht entschieden wird, nimmt keiner daran Anstoß. Zwar ist man nicht gerade stolz darauf, dass es Anwälte gibt, die den Polizeifunk abhören und nach einem Unfall sofort ins Krankenhaus fahren, um sich den Opfern anzudienen, aber selbst diese Praxis wird akzeptiert.

Im Kapitalismus ist eben alles auch Business, selbst die tiefsten Gefühle und die größten Schrecken. Die Liebe wird zum Business, das Sterben wird zum Business. Ob Hochzeiten oder Beerdigungen: Immer ist jemand da, der sein Geld damit macht. Dass Anwälte - wie der Münchner Michael Witti oder sein US-Kollege Ed Fagan -, die unlängst noch für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern gestritten haben, sich jetzt für die europäischen Bauern in die Bresche schlagen und bereits Schadenersatzklagen in Milliardenhöhe angekündigt haben, gilt in den USA eher als Ausweis von Raffinesse, denn als besonders verwerflich. Auf die Idee, dass es unmoralisch sein könnte, wenn ein Anwalt mit allen Mitteln versucht, Geld zu verdienen, kommt hier niemand.

Das hat mit dem Rechtssystem zu tun. Üblich ist der Geschworenenprozess, in dem Staatsanwaltschaft und Verteidigung mit jeweils eigenen Zeugen, mit Kreuzverhören und rhetorischem Geschick um die Gunst einer Laien-Jury buhlen. Anwälte müssen eine Show abziehen, um erfolgreich zu sein. Und es hat zu tun mit der Einsicht, dass die Gesetze des Marktes und der Politik das gesamte Leben durchdringen.

Nichts kann sich dem anwaltlichen Zugriff und der industriellen Verwertbarkeit entziehen, auch historische Ereignisse können das nicht. Vielleicht haben Finkelsteins Thesen über die "Holocaust-Industrie" auch deshalb in den USA so wenig Furore gemacht. Denn abgesehen von dem Vorwurf, es sei mit falschen Opferzahlen hantiert worden: Seine Grundbeschwerde, das Leiden der Opfer werde ausgebeutet, ruft nur ein Achselzucken hervor. Es gibt eine Vietnamkriegs-Industrie, eine Religions-Industrie und eine Medizin-Industrie. Warum soll es keine Holocaust-Industrie geben? Im Kapitalismus kann sich keiner gegen eine Vereinnahmung wehren, auch Opfer nicht: Bücher und Filme über sie müssen verkauft, Gedenkstättenwettbewerbe entschieden und Entschädigungsprozesse geführt werden. Das mag man bedauern, überraschen kann es kaum. Noch weniger lässt es sich ändern.

Gegen den Missbrauch des Holocausts gibt es gute Gründe. Ebenso wie gegen den Missbrauch des Klagerechts. Dagegen, dass es das Klagerecht gibt und der Holocaust überhaupt instrumentalisiert wird, lässt sich bloß ein einziger Grund anführen: dass die Welt nicht so sein sollte, wie sie ist.

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