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Gewalt gegen Kinder hat für diese oft tief greifende Folgen. Sie zerstört das Vertrauen der Kinder, in sich selbst und in die Erwachsenen.

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Gewalt gegen Kinder: Mehr als nur ein Klaps

Noch immer geben die Hälfte aller Eltern in Deutschland an, Gewalt gegen ihre Kinder anzuwenden. Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Debatte.

Von Caroline Fetscher

Angeblich hat das Kind „genervt“. Es war „unverschämt“, hat nicht „gehorcht“. Schon ist ein Vorwand dafür parat, dass dem Erwachsenen „die Hand ausrutscht“. Noch immer passiert es so, hunderttausend Male jeden Tag, quer durch alle Milieus, auch wenn besser Gebildete geringfügig reflektierter reagieren. Mit Dutzenden statistischer Tabellen bringt eine neue Studie jetzt diesen Tatbestand ans Licht. Beauftragt von der Zeitschrift „Eltern“ haben Meinungsforscher von Forsa dafür das Strafverhalten in der Erziehung erkundet. Ihr Fragebogen nutzt das gängige Vokabular der Verharmlosung – „ein Klaps“, „versohlen“ –, offenbar um den anonym Befragten einen Pfad zur ehrlichen Antwort zu bahnen.

Geändert hat sich wenig am Gewaltverhalten von Eltern, obwohl seit November 2000 ein Gesetz mit klarem Text in Kraft ist. Darin heißt es: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Mit diesen Sätzen war das elterliche „Züchtigungsrecht“ beendet, das zuvor zumindest eingeschränkt noch galt. Gewalt über den Körper des Kindes – das galt als letzte Bastion physischer Machtausübung im privaten Raum, nach der Illegalisierung der Gewalt des Ehemannes über den Körper der Frau.

Seit 1945 hatten Lobbygruppen wie der Deutsche Juristinnenbund, allen voran Lore Maria Peschel-Gutzeit, für die Änderung des Paragraphen gestritten, gegen hartnäckigen Widerstand vor allem aus der Union. Erst unter Rot-Grün kam die Änderung zustande, doch die beherzte Kampagne zur Durchsetzung des neu formulierten Paragraphen blieb aus. Bis heute fehlen bundesweit geltende Standards zu seiner Implementierung. „Wir kommen den Eltern doch nicht mit dem Gesetz!“ So beschönigen Mitarbeiter von Institutionen wie Kitas gerne ihre konfrontationsscheue Position. Dabei müsste der Hinweis auf das Gesetz so selbstverständlich sein wie das Wissen, dass man bei roter Ampel nicht über die Kreuzung fährt. Gewiss ist aber auch: Ein Paragraph ändert noch nicht die Empathie gegenüber Kindern. Dazu bedarf es zusätzlicher, auch emotional vermittelter Aufklärung.

Klare Standards müssten endlich durchgesetzt werden, von der Hebamme über die Kita, von der Schule bis zum Jugendamt und zu den Familienrichtern. Nachvollziehbar und eindeutig müsste endlich vermittelt werden, was Gewalt gegen Kinder bedeutet, emotional, mental und physisch. Gewalt gegen Kinder zerstört Vertrauen in Erwachsene, in sich selber, in die Welt. Sie macht ängstlich und aggressiv, führt zu Schulversagen, lässt neue Gewalt aufkommen und zeitigt häufig traumatische Störungen mit erheblichen Folgen.

Was tut, was unterlässt der Staat? Den vom Grundgesetz legitimierten Schutzauftrag für das Kindeswohl sollen zuvorderst die Jugendämter durchsetzen. Ihnen wirft die Öffentlichkeit in einem Fall zu viel, im anderen zu wenig Einsatz vor. Fakt ist, dass eine Fachaufsicht über die Jugendämter bisher fehlt und in den Ämtern, je nach Standort, unterschiedliche Gepflogenheiten herrschen. Auch beklagen Experten das Fehlen einer obligatorischen Fortbildung für Familienrichter, die oft etwa von kindlicher Entwicklungspsychologie keine Ahnung haben.

In diesem Klima von Nachlässigkeit und Willkür ist es kein Wunder, wenn gut die Hälfte der aktuell Befragten einräumt, dass sie Kindern gegenüber Gewalt anwenden. Da das eine oder andere Aufklärungspartikel in den öffentlichen Diskurs eingesickert ist, schlagen Eltern heute eher mit schlechtem Gewissen zu, wie die Studie ermittelte. Einige entschuldigen sich nach der Tat beim Kind, andere ärgern sich zumindest still über sich selber. Kaum erfasst werden kann bei Umfragen, wie sehr und wie oft der Ton gegenüber Kindern dem Sinn des Gesetzes widerspricht.

Herabwürdigung, Sarkasmen, Grobheit selbst gegenüber kleinen Kindern gelten häufig noch als „normal“. Denn Minderjährige, die sich ihrer Rechte nicht bewusst sind, die nicht über den Kosmos der Familie hinausschauen können, eignen sich gut als Blitzableiter der Erwachsenen, je kleiner sie sind, desto besser. An ihnen lassen sich Frustrationen, Ärger, Stress abreagieren, hier kann man anraunzen, losbrüllen, zuschlagen, ohne dass es, wie unter Erwachsenen, Konsequenzen hätte. Daher motiviert nicht nur die gern zitierte „Hilflosigkeit“ das brutalisierte Verhalten, sondern auch seelische Bequemlichkeit oder schlicht Grausamkeit – so sehr man den „Stress“ den gesellschaftlichen Umständen, den Karrieren oder der Arbeitslosigkeit, zurechnen mag.

Nichts entschuldigt die Vergehen: Sie sind Symptome einer seelisch unreifen Gesellschaft. Den wirksamen Willen zur Aufklärung über Sinn und Inhalt des Gesetzes zum Schutz der Kinder vor Gewalt, das wird mit der Studie erneut deutlich, gilt es erst zu wecken.

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