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Fußball-Europameisterschaft: Weil wir so müde sind

Zu viel Fußball? Gibt es nicht. Warum das EM-Fieber trotzdem auf sich warten lässt.

"Schweini“, die amtierende Wade der Nation, am Wochenende bei der Reha. Auf Capri, wo die rote Sonne bekanntlich im Meer versinkt und es sich am Luxushotelpool nett räkeln lässt: Rechts ein kühler Drink, links die Freundin (23) und auf den Knien eine Illustrierte mit Brad Pitt auf dem Cover. Entspannung kann ja so entspannend sein! Da blinzelt selbst die böse Wade fast heilungsfroh aus ihrem pinkfarbenen Kinesio-Tape. Und bevor die deutsche Fußballvolksseele DREI TAGE VOR DER EM in Wallung geraten kann, versichert „Bild“: Ja, Jogi Löw habe diesen Blitz-Trip gestattet. Ja, der DFB auch. Dann ist ja gut.

Dabei gibt es nichts, was man dem deutschen Team und sich selbst DREI TAGE VOR DER EM mehr gönnen würde als ein gepflegtes Abschalten. Mal Luft holen, bella bella bella Marie, auch ohne Capri. Einfach so. Das Gefühl, das man nach den jüngsten Hypes haben muss – Championsleague! drei zweite Plätze für die Bayern! Hertha! – und das der normale Fußballsterbliche sicher teilt, ähnelt dem ausgefallener Sommerferien. Letzter Schultag, Zeugnisse – und am nächsten Morgen geht es mit Mathe in der ersten Stunde weiter.

Nie war ein Saisonende so zäh, so elend lang wie dieses. Nie gab es so wenig Zäsur, so gar nicht fußballfrei. Wenn wir Pech haben und die Hertha-Bosse erneut in Berufung gehen, könnte es sogar passieren, dass sich der Bandwurm der verpatzten Relegation bis in die neue Saison hineinringelt. Als liefe die Zeit rückwärts und vorwärts zugleich. Als würde den Deutschen, den Berlinern zumal, zwischen Kitaplätzemangel, Linksparteigerangel und Atom-U-Booten für Israel ein Second-Life-Szenario geboten, nach dem sie umso entschlossener greifen, je wirrer der Rest wird. Brot und Spiele, das alte Lied. Weil wir so müde sind.

EM ist trotzdem, und wenn die Maschinerie einmal läuft, die von Schweinsteigers „tragischer“ Elfmeter-Wade so wenig weiß wie von Julia Timoschenkos Schicksal, dann läuft sie. Dann ist kein ZDF-Strandkorb auf Usedom mehr zu verrücken und kein Rubbelspiel zu stoppen. Mit der Seele des Fußballs, der viel beschworenen, mit der Sehnsucht nach einem neuerlichen Sommermärchen drüben im finsteren Osten, mit Vorfreude hat das alles nichts zu tun. Wir sind zwar fußballmüde, haben aber nicht den Mut, uns diese kleine Schlappheit einzugestehen – und geben uns hin, lassen uns einfach überrollen. Nicken ab. Wird schon. Kommt schon. Nie war so wenig EM-Fieber wie DREI TAGE VOR DER EM.

Erschwerend zur deutschen Befindlichkeit hinzu kommen die Gastgeber des Wettbewerbs. Die polnische Fußballbegeisterung scheint eine sprichwörtliche zu sein und vielleicht steckt sie ab Freitag ja alle an. Die Ukraine aber liegt gefühlt viel weiter weg als zuletzt Südafrika, mehr hinterm Mond der Menschenrechte als noch in Europa. Alle halbherzig geführten Diskussionen über die politische Verantwortung des Sports haben das Land nicht erträglicher gemacht. Seine Menschen sind das eine, sein korruptes, unsere Werte mit Füßen tretendes System ist das andere. Möge diese Meisterschaft schadlos vorübergehen – und schnell.

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