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Wenn Bethlehem ein Dorf in Sachsen gewesen wäre ...

© Karikatur: Klaus Stuttmann

Flüchtlingskrise an Weihnachten: Zerrissen unterm Tannenbaum

Der Heimatort: ein Dorf in Sachsen. In der Familie: ein Riss. An Weihnachten spürt unsere Autorin, wie sehr die Flüchtlingskrise unsere Gesellschaft teilt. Ein Essay. 

Es ist ein trüber Dezembertag. Mit den Weihnachtseinkäufen in der einen Hand und dem Handy in der anderen laufe ich an türkischen Restaurants in der Kreuzberger Adalbertstraße vorbei. Meine Mutter ist am Telefon. Ob ich schon die Nachrichten gesehen habe, fragt sie. Seit Wochen erzählt sie mir davon, wie gegen ein geplantes Flüchtlingsheim Front gemacht wird, in unserem Heimatort im Erzgebirge.

„Gestern Nacht wurde ein ankommender Flüchtlingsbus mit Steinen und Böllern beworfen.“

„Wie schrecklich!“

„Einige Flüchtlinge waren so verängstigt, dass sie sich geweigert haben, in dem Heim zu bleiben.“

„Ist ja auch verständlich...“

„Und in dem alten Spaßbad in Thalheim ist jetzt auch eine Flüchtlingsunterkunft – davor wurde ein blutiger Schweinekopf aufgespießt. An den Bäumen hingen Hakenkreuzplakate.“

Mir wird schlecht.

Die Orte, die neuerdings als Epizentren des Flüchtlingshasses in den Nachrichten auftauchen, sind dieselben, an denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. In dem alten Spaßbad hatte ich Schwimmunterricht. Auf dem Marktplatz in Stollberg, unweit meines alten Gymnasiums, fand am 1. Advent eine Großdemonstration von Asylgegnern statt – der Bürgermeister hatte die Weihnachtsmarktbühne für die Kundgebung zur Verfügung gestellt. Und nun eben in meinem Heimatort – 2700 Einwohner, Kirche, Freibad, Supermarkt.

Auf einmal ist der Konflikt ganz nah - und damit auch dieser Riss, der sich durch unser Land zieht. Die einen, die sagen: wir schaffen das, und die anderen, die sagen: wir wollen nicht. Laut einer ZDF-Umfrage halten sich diese Meinungen gerade die Waage. 48 zu 48 Prozent. Halb und Halb. Der Riss geht durch die Gesellschaft, durch die Gemeinden und zwangsläufig durch die Familien.

Man kennt sich. Aber man grüßt sich nicht mehr.

Nun an Weihnachten wird spürbar, wie weit diese Teilung schon fortgeschritten ist. Diejenigen, die das ganze Jahr in anderen Städten oder im Ausland gelebt haben, kehren in ihre Heimat zurück. Verwandte, die sonst wenig miteinander zu tun haben, sitzen am Tannenbaum stundenlang beieinander. Und in den Gottesdiensten muss der Asylgegner in der eng gedrängten Kirche neben dem Flüchtlingshelfer Platz nehmen. Man kennt sich. Aber man grüßt sich nicht mehr.

In der Flüchtlingsfrage scheint es nur noch Schwarz und Weiß zu geben, aber wenig Graustufen. Dafür oder dagegen. Es ist eine Gewissensfrage, auf die jeder nur eine Antwort hat. Deshalb ergibt sich unterm Tannenbaum eine heikle Situation. Mit wem kann man noch darüber reden? Mit wem will man noch darüber reden?

Als ich zur Schule ging, war die Sache einfacher: Nazis waren an ihren Springerstiefeln zu erkennen, an ihrer Glatze oder – etwas subtiler – an ihrer Kleidung von Lonsdale oder Thor Steinar. Mit ihnen hatte ich nichts zu tun. Im Freundeskreis spielte Politik im Grunde kaum eine Rolle. Meine Freunde aus dem Dorf unterhielten sich über ihre getunten Simson-Roller, die letzte Party in der Gartenhütte und die neuen Southpark-Folgen. Ausländer gab es nicht – der einzige, an den ich mich erinnere, war ein Junge mit südostasiatischem Migrationshintergrund, der arglos „der Gelbe“ genannt wurde.

In Berlin zeigt sich, wie erfolgreich Integration sein kann

In Berlin lebe ich ein anderes Leben. Hier heißen die Verkäufer im Kiosk Hasan und Herr Özer. Ich kann morgens zwischen Brötchen, Croissants und Simits wählen, diesen mit Sesam bestreuten Brotringen. Auf den Straßen vermischt sich Deutsch mit Arabisch, Türkisch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Als meine Mutter einmal zu Besuch war, zählte sie staunend die Namen der Klingelschilder an meinem Haus in Kreuzberg, die nach Ausländern klingen. Es war wohl mehr als die Hälfte.

Ein Klick kann das Misstrauen besiegeln

Berlin ist eine multikulturelle Blase, in der es fast unmöglich ist, nicht mit fremden Kulturen in Berührung zu kommen. Und auch die Flüchtlingskrise sieht hier anders aus. Die Geflüchteten, mit denen ich zu tun habe, studieren, machen ein Praktikum und haben große Pläne für die Zukunft. Sie wirken motiviert und voller Tatendrang. Angst habe ich nicht vor ihnen. Zwar zeigt sich am Lageso das große Chaos, die Hilflosigkeit der Politik, die Alltäglichkeit menschlicher Dramen. Aber daneben gibt es viele Beispiele, wie erfolgreich Integration sein kann.

Für mich ist es selbstverständlich, dass auch meine Freunde und Bekannte hier in Berlin Flüchtlingen offen und freundlich gegenüber stehen. Für uns ist das die einzige akzeptable Haltung. Aber wenn wir nun an Heiligabend nach Hause kommen, zurück in die Heimat, dann spüren wir den Riss.

Einer Helferin zerstach man die Autoreifen

Kurz vor Weihnachten habe ich mit der Mutter einer meiner ältesten Freundinnen telefoniert, die in einem Nachbarort lebt. Sie ist Mitglied in der christlichen Gemeinde und geht häufig ins Asylbewerberheim, um zu helfen.

„Nach einem Besuch im Heim bin ich letztens zurück zu meinem Auto gegangen. Da wurde ich fotografiert, auch mein Kennzeichen ist bestimmt abgelichtet worden.“

„Das war sicher ein ungutes Gefühl.“

„Das stört mich nicht mehr so sehr. Ende September fand ich es noch schlimm. Da hat man mich bei einer Diskussion zu Flüchtlingen in der Einwohnerversammlung ausgebuht.“

Einer anderen Helferin hat man die Autoreifen zerstochen und mit dem Aufkleber „Wir sind das Pack“ versehen. Auch in meinem Heimatdorf wird ganz genau beobachtet: Wer hilft im Asylbewerberheim? Und wer schließt sich den Lampionspaziergängen „besorgter Bürger“ an? Wer liked bei Facebook die Seite „Nein zu Asylmissbrauch und Islamisierung“? Und wer den „Helferkreis“ für Flüchtlinge? Ein Klick kann das Misstrauen besiegeln.

Der Bürgermeister wird schon lange als „Volksverräter“ beschimpft. Und die Schulleiterin der örtlichen Grundschule bekam einen offenen Brief: Ob das hohe Niveau der Schule noch zu halten sei, wenn erst Flüchtlingskinder in den Unterricht kämen, wollten die Eltern darin wissen.

Die Weihnachtszeit scheint dazu zu führen, dass sich der Konflikt noch verstärkt. Es ist eine gemütliche Zeit. Eine, in der sich viele der Traditionen ihrer Region bewusst werden – gerade im Erzgebirge, wo auf den hell erleuchteten Fensterbänken die traditionellen Lichterbögen und Nussknacker stehen. Die Asylgegner stellen die Flüchtlinge als Bedrohung dieser Werte und Traditionen dar.

Die Helfer dagegen – viele fühlen sich der Kirchgemeinde verbunden – sehen in dieser Zeit die Weihnachtsgeschichte im Schicksal der Flüchtlinge: Die Menschen weisen sie ab, sie wollen sie nicht hineinlassen.

Unsere Strategie in den letzten Monaten: Thema wechseln

In diesem Konflikt wegsehen, nicht mehr grüßen: Auf der Kirchbank oder im Supermarkt mag das eine Option sein. Doch in der eigenen Familie lassen sich die Differenzen so nicht lösen. Ich habe den Streit unterm Tannenbaum eigentlich kommen sehen. Denn seit mein Vater mir vor einigen Monaten eröffnete, er könne „die Pegida-Leute schon verstehen“ hat sich auch in meiner Familie ein solcher Riss gebildet. Meine Schwester, die im Flüchtlingsheim Deutsch unterrichten will und am ersten Advent auf der Gegendemonstration eine Rede hielt, spürt ihn auch. Unsere Strategie in den letzten Monaten: das Thema wechseln.

Den Konflikt muss man aushalten können

Ich bin plötzlich Teil dieses Streites, der das Land zerreißt. Beim Dafür oder Dagegen stehe ich auf der einen Seite und mein Vater auf der anderen. Aber darf man zulassen, dass sich ein Riss durch die eigene Familie zieht? Kann man im Kleinen vielleicht etwas lernen für den großen Riss in der Gesellschaft?

"Wir können das nicht schaffen"

Kurz vor Weihnachten habe ich beschlossen, dem Ganzen noch einmal nachzugehen. Mir Argumente anzuhören, die ich vermutlich nicht teile. Und zu verstehen, welche Ängste es sind, die hinter der ablehnenden Haltung meines Vaters stehen. Wenn man ihn lässt, erzählt er viel davon.

„Das Sozialsystem bricht auseinander, wenn wir noch mehr aufnehmen. Vielen Deutschen wird es schlechter gehen.“

„Also meinst du nicht, dass wir das schaffen können?“

„Nein, können wir nicht.“

Oft kann ich nicht mit Statistiken kontern

Mein Vater fürchtet um seine Rente, um all die Sozialleistungen. Er glaubt, dass es bald viel mehr Obdachlose geben wird. Er fürchtet ein Ansteigen der Kriminalitätsrate, denn die sei bei jungen Migranten höher als bei Deutschen – das habe selbst Angela Merkel vor einigen Jahren gesagt. Er hat Angst vor Terroristen. Und davor, dass uns die Flüchtlinge für Jahre auf der Tasche liegen. Er sagt, dass 95 Prozent von ihnen nicht in den Arbeitsmarkt integrierbar seien. Für viele seiner Aussagen hat er Statistiken parat, von denen ich nicht weiß, wo sie herkommen. Zugegeben: Ich kann meist nicht sofort mit Zahlen kontern. Meistens kommen unterschiedliche Studien ohnehin zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das Institut für Weltwirtschaft prognostiziert etwa, dass jeder fünfte Flüchtling, der bis 2017 nach Deutschland kommt, einen Job findet. Es gibt bei den Zahlen eine große Unsicherheit. Und sie tragen meist nicht zur Konsensfindung bei.

„Den Leuten, die bedroht sind von Leib und Leben, denen müssen wir helfen. Aber 90 Prozent von denen, die kommen, sind ja Wirtschaftsflüchtlinge.“

„Gerade kommen vor allem Menschen aus Syrien. Hast du dir mal Bilder von den zerbombten Städten angeschaut? Da kann man nicht wohnen.“

„Das Land ist nicht völlig unbewohnbar. Und die liefern ja gerade Hunderttausende Tonnen Zitrusfrüchte an Russland. Irgendwas muss dort also noch funktionieren.“

Auf solche Sätze weiß ich nichts mehr zu sagen. Ich habe hinterher aber nochmal gegoogelt: Das mit den Zitronen stimmt. Aber was sagt das aus? Und das Asylbundesamt hat im ersten Halbjahr 2015 fast 50 Prozent aller Asylsuchenden den Schutzstatus zugesprochen, für die aus Syrien waren es 2014 nahezu 100 Prozent. Vergangene Woche sagte ein Flüchtling zu mir: „Wir sind nicht hier, weil wir hier sein wollen, sondern weil wir müssen.“ Daran glaube ich.

"In den normalen Medien wird die Diskussion nicht zugelassen"

Mein Vater dagegen hat das Gefühl, dass die Regierung mit ihrer Flüchtlingspolitik gegen das Volk regiert. Er fühlt sich für dumm verkauft, glaubt, dass die Politik der Bevölkerung Informationen vorenthält. Und er ist überzeugt, dass es den Pegida-Anhängern genauso geht.

„Die haben auch Angst. Aber in normalen Medien wird die Diskussion ja gar nicht zugelassen. Und deswegen gehen viele auf die Straße.“

Weihnachten ist die Chance, die Diskussion einmal zuzulassen. Danach steht man immer noch auf unterschiedlichen Seiten des Risses. Aber möglicherweise ist er dann weniger tief. Nach dem Gespräch mit meinem Vater waren wir nicht plötzlich einer Meinung. Wir werden uns auch weiterhin in grundlegenden Punkten nicht einig sein. Aber zumindest glaube ich daran, dass der Streit unterm Tannenbaum nicht eskalieren wird.

Denn wenn überzeugen nicht funktioniert und der Konflikt sich nicht vermeiden lässt – dann muss man ihn eben aushalten. Dann muss man den Streit akzeptieren und Toleranz aufbringen für die Familienmitglieder. Und trotz all der Unterschiede darf man nicht aufhören, sie zu lieben.

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