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72 Jahre lang blieb der Angeklagte unbehelligt. Bis 2016 die Polizei bei dem früheren Wachmann klingelte.

© REUTERS

Ein notwendiges Urteil im NS-Prozess: Zu Selbstgewissheit haben wir auch heute keinen Anlass

In Hamburg wurde ein früherer KZ-Wachmann mit 93 Jahren verurteilt. Gehen die Deutschen richtig mit ihrer NS-Geschichte um? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hans Monath

Was ist die gerechte Strafe für ein derart monströses Verbrechen? Wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen hat das Landgericht Hamburg einen 93-jährigen früheren SS-Wachmann zu zwei Jahren Jugendstrafe verurteilt, auf Bewährung. Der Täter war damals, im Jahr 1944, erst 17 Jahre alt - deshalb die Jugendstrafe.

Das Urteil ist notwendig und beschämend. Notwendig, weil das Gericht auch im Angesicht der überlebenden Zeugen und Nebenkläger das Unrecht festgestellt hat, das der Angeklagte damals beging. Beschämend, weil die meisten Haupttäter nach dem Krieg unbehelligt blieben, während es in einem der letzten NS-Prozesse 76 Jahre nach seinen Taten nun einen Greis im Rollstuhl traf, der damals nur ein kleines Teil einer großen Mordmaschinerie war.

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Die Bundesrepublik hat einen langen Weg zurücklegen müssen, bis sie sich ihrer Geschichte stellte. In der Nachkriegszeit flüchtete sich die deutsche Gesellschaft in „kommunikatives Beschweigen“ (so rechtfertigend der Philosoph Hermann Lübbe). Erst in den sechziger Jahren wurden die ersten Verantwortliche für Vernichtungslager vor deutsche Gerichte gebracht. Keineswegs selbstverständlich war es, dass sich im Historikerstreit 1986 die Einsicht von der Singularität des Holocaust durchsetzte. Gegen viel Widerstand hat das eine Generation kritischer Intellektueller erkämpft.

Heute ist die Erinnerung an deutsche Verbrechen und das Gedenken der Opfer ebenso Teil der deutschen Staatsräson wie der Einsatz für das Existenzrecht Israels. Kaum ein deutscher Schüler wird seine Ausbildung beenden können, ohne mit dem Grauen von Auschwitz konfrontiert worden zu sein.

Die amerikanische Philosophin Susan Neiman hält die jahrzehntelange Selbstprüfung und Erinnerungsarbeit der Deutschen für so gelungen, dass sie diese in ihrem jüngsten Buch anderen Nationen schon im Titel zur Nachahmung empfiehlt: „Von den Deutschen lernen.“

Heute ist das KZ Stutthof nahe Danzig eine Gedenkstätte. In einem Wachtturm dieses Typs tat der in Hamburg Verurteilte 1944 Dienst.
Heute ist das KZ Stutthof nahe Danzig eine Gedenkstätte. In einem Wachtturm dieses Typs tat der in Hamburg Verurteilte 1944 Dienst.

© AFP

Doch für Selbstgewissheit besteht im Land der Täter auch nach jahrzehntelanger, intensiver Auseinandersetzung mit dem Menschheitsverbrechen kein Anlass. Zu offensichtlich ist die Gefahr für Minderheiten durch Einzeltäter oder Gruppen, die sich verdeckt oder offen aus dem Arsenal der NS-Ideologie bedienen: In Halle versucht ein Rechtsextremer ein Blutbad in einer Synagoge anzurichten. Antisemitismus wird immer offener zur Schau getragen. Rechtsextreme hetzen in sozialen Medien. In der öffentlichen Rede, auch im Bundestag, fallen Tabus. Und Frauen aus dem linken Spektrum erhalten serienweise Morddrohungen.

Es scheint ein Paradox: Die politische Kultur in Deutschland bemüht sich mit Herzblut, die Erinnerung nicht vergehen zu lassen und menschenverachtende Gedanken zu verbannen. Und trotzdem scheinen Hetzer gerade aus dem Angriff auf diese Errungenschaft Energie zu ziehen. Wenn Björn Höcke das „Denkmal der Schande“ angreift, brandet bei seinen Anhängern Jubel auf.

Womöglich ist die Ursache dafür nicht in der Erinnerungskultur zu suchen, sondern in der Entwicklung der Gesellschaft. Dabei geht es um die Frage, warum sich ein relevanter Teil der Bürger soweit isoliert fühlt, dass er in seinem Hass auf die Zustände zvilisatorischen Errungenschaft zu opfern bereit ist. Das ist nicht nur ein deutsches Problem. Aber wegen der eigenen Geschichte muss dieses Land damit sensibler umgehen als andere Nationen, auch wenn dort der Rechtspopulismus noch größere Geländegewinne erzielt hat.

Wird sich die Erinnerungskultur verändern, wenn die letzten Überlebenden des Holocaust gestorben sind? Die Gefahr besteht, dass das deutsche Selbstverständnis, in dem die NS-Verbrechen einen zentralen Platz einnehmen, als Generationenprojekt endet. Wer das nicht will, muss nicht nur Fragen an die deutsche Geschichte stellen, sondern auch an die deutsche Gegenwart.

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