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Meinung: Die Kälte kommt

Das Palme-Trauma lebt – deshalb wird der Mord an Anna Lindh Schweden tief greifend verändern

Der Täter und sein Motiv sind bisher nicht bekannt. Fest steht aber, dass der Mord an der schwedischen Außenministerin Anna Lindh eine weitere tiefe Zäsur in der jüngeren Geschichte des skandinavischen Landes sein wird, auf das so viele Deutsche so staunend und gelegentlich ehrfurchtsvoll blicken. Schweden ist für viele – fälschlicherweise – noch immer ein Synonym für den Wohlfahrtsstaat, der seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre behütet. Schweden steht für Neutralität, für eine Gesellschaft, die eine völlig andere, viel intensivere Kultur der politischen Debatte pflegt, für eine Gesellschaft, die auf Konsens ausgerichtet ist.

Doch wer an Schweden denkt, denkt auch an Palme, „Estonia“ – und jetzt Lindh. Der Untergang der Fähre, bei dem am 28. September 1994 auf der Fahrt von Tallinn nach Stockholm 852 Menschen den Tod fanden ist bis heute letztendlich genauso ungeklärt wie der Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten am 28. Februar 1986. Beide Ereignisse haben die Schweden traumatisiert. Und wer nach Erklärungen für den Mord an Anna Lindh sucht, stößt auf so frappierend viele Details, die an die Ermordung von Olof Palme erinnern. Auch damals konnte sich ein unbekannter Täter auf einen unbewachten Politiker stürzen. Palme, mit seiner Frau auf dem Rückweg vom Kino, wurde aus nächster Nähe erschossen. Damals wie heute ist es die Polizei, die sich Fragen gefallen lassen muss. Dem Palme-Mord folgte eine schier endlose Kette von Ermittlungspannen. Der Täter ist bis heute unbekannt, das Motiv nicht geklärt.

Am Donnerstag werteten viele Kommentatoren in Schweden den Mord an Lindh als katastrophalen Fehlschlag für die Sicherheitspolizei Säpo, warfen ihr Inkompetenz und fehlende Professionalität vor, weil Lindh sich ohne Leibwächter in Stockholm bewegte und zum Beispiel bei der Großfahndung die U-Bahnen nicht gestoppt wurden. Und die größte schwedische Tageszeitung „Dagens Nyheter“ bemerkte dazu, „es habe irgendjemand eine ernsthafte Fehleinschätzung zu verantworten“. Die Frage ist, wer? Tatsächlich die Polizei, oder vielleicht doch eher die Politik oder sogar die Gesellschaft?

In Wirklichkeit ist der Mord an Lindh entsetzlicher Ausdruck der Tatsache, dass die Realität auch vor Schweden nicht halt macht. Einem Land, in dem man bisher prominente Politiker problemlos auf der Straße ansprechen konnte, wo Premiers zur Arbeit radelten und Interviews mit dem Regierungschef ohne Leibwächter geführt wurden. Ob der Mord an Lindh nun politisch motiviert oder die Tat eines geistig Verwirrten ist, dieses Verbrechen muss und wird Konsequenzen haben. Die Regierung beriet am Donnerstag über verschärfte Sicherheitsmaßnahmen für Minister. Doch das Attentat wird für die ganze Gesellschaft nicht ohne Folgen bleiben und den Menschen in Stockholm, Göteborg und Malmö deutlich machen: Es wird kälter – auch in Schweden.

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