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Afrikanische Migranten nach der Rettung von Booten in der Straße von Gibraltar.

© Jon Nacza/Reuters

Der Fall Özil und der Alltag: Wir sind alle Rassisten – aber das können wir ändern!

Mit dem Finger auf Rassisten zeigen, ist sinnlos. Aber über Rassismus reden und etwas gegen ihn tun, ist dringend nötig. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Heute im Radio. „Ist Reinhard Grindel ein Rassist und sollte deswegen zurücktreten?“, wird Claudia Roth gefragt. Gute Frage für eine Journalistin, denn wenn Roth Ja sagt, hat unsereins eine Nachricht: „Die Bundestagsvizepräsidentin und Grünen-Politikerin Claudia Roth fordert den Rücktritt von DFB-Präsident Grindel. Die Bundestagsvizepräsidentin sagte dem ...“

Ganz schlechte Frage aber, wenn Mitmenschen sie einander in den Alltag schlenzen. „So eine Rassistin!“, „Merken Sie nicht, wie rassistisch Sie reden?“ Da endet zuverlässig jedes Gespräch, vorzugsweise seit es Soziale Medien gibt: „Ich lasse mich doch nicht von Ihnen als Rassistin bezeichnen/in die Nazi-Ecke stellen/beleidigen!“ oder „So weit sind wir also schon, dass man als Rassist gilt, wenn man sagt, was ist.“

Schwarzer Mann und Südseekönig

Und Schluss. Oder Krach. Auf jeden Fall nicht die harte, aber fruchtbare Debatte, die dringend nötig wäre. Rassist, das kommt gleich hinter Nazi, das wollen nicht mal die sein, die Nazi-Vokabular längst in ihren aktiven Wortschatz eingepflegt haben.

Dabei sind wir das alle. Rassisten. Es ist so gut wie unmöglich, in unserem, dem nördlichen Teil der Erde zu leben und es nicht zu sein. Und je mehr Bildungsgut oder auch -ballast einem die Herkunftsfamilie schenkt, desto größer wird das Problem. Die Mär vom schwarzen Mann ist, wenn heutige Eltern Geschichten erzählen, vielleicht aus der Mode. Aber Pippi Langstrumpfs Papa sticht in Astrid Lindgrens (schönem) Klassiker immer noch in See, um ganz selbstverständlich zum König der primitiven Wilden in der Südsee zu werden. Die britische Germanistin, Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo sieht darin zu Recht eine Erzählung über ein koloniales Projekt.

Und in Schule und Universität geht es weiter. „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen“, befand Immanuel Kant. Asiaten – die Gelben – hielt der deutsche Denkerkönig schon für weniger talentiert, Schwarze stünden „weit tiefer“, und am Ende der Tabelle sah der Mann aus Königsberg „einen Teil der amerikanischen Völkerschaften“.

Wer hier gebildet wurde, steckt in der Rassismusfalle

Wir sind, von der Professorin bis zum Polizisten, vom Lehrer bis zur Medienschaffenden, umgeben, umzingelt, durchtränkt von diesem kolonialen „Wissen“ und seinen Vorurteilen. So wie beinahe alles in unseren Bücherregalen immer wieder die angeblich naturgegebene Teilung der Welt in Männer und Frauen reproduziert, einschließlich deren angeblich ebenso gott- oder naturgewollten Rollen. Dass Weiß über Schwarz steht, steckt so fest in westlicher Kultur, dass man den Namen Immanuel Kant nicht einmal kennen, geschweige denn ihn gelesen haben muss. Wir lernen das, mal ex-, mal implizit, seit 500 Jahren, seit der fatalen und brutalen Unterwerfung der Amerikas unter europäische Herrschaft. Die akademische Begründung von Menschen-„Rassen“ im 19. Jahrhundert hat der üblen Praxis die angeblich wissenschaftliche Rechtfertigung nachgeschickt. Nicht zufällig härtete zugleich auch die bis heute geltende Geschlechternorm aus.

Wie also sollte, wer durch Sozialisationsinstanzen auf der nördlichen Halbkugel gegangen ist, nicht Rassist sein? Nicht einmal die, die Rassismus als weniger wertvoll schmäht, sind immun dagegen, auch ihr Selbstbild ist betroffen. Etliche akzeptieren den Irrsinn und halten sich für die Ausnahmen, viele andere beugen sich ihm resigniert. Der Vorwurf „Du Rassist“ ist daher banal und eine Verschwendung von Energie. Wie in der Kinderbuchkontroverse von ihren Gegnern richtig bemerkt wurde: Wir müssten unsere Bibliotheken fast vollständig leeren, um das Gift des Rassismus zu neutralisieren. Das wird nicht zu schaffen sein.

Ehrlich mit sich sein, öffnet neue Horizonte

Und vielleicht sollten wir das auch gar nicht wollen. Aber Gift sollte auch nicht zu Schlagsahne verharmlost werden. Man kann die Dinge beim Namen nennen. Und direkt danach einmal innehalten und fragen, ob die eigene Weltsicht wirklich die einzig mögliche ist, ob wir wirklich die Wirklichkeit sehen, wenn wir über die Demokratiefähigkeit „der“ Senegalesen, die Werte „der“ Türkinnen und den Fleiß „der“ Asiaten urteilen, oder ob wir sie durch die Brille unserer Vorurteile, Prägungen und auch unserer Privilegien sehen. Die Angst vor diesem Experiment scheint übergroß, dabei öffnet es neue Horizonte und kann ein geistiges Vergnügen werden.

Reinhard Grindel sollte also nicht zurücktreten, weil er ein Rassist ist, sondern weil ihm der strukturelle Rassismus in seinem Laden – und seiner ist nicht der einzige – egal ist.

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