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Das Verblassen der westlichen Werte: Warum das "Europa der zwei Geschwindigkeiten" kommen muss

Die alte Begriff der westlichen Werte belastet die Diplomatie. Was dagegen getan werden kann und was die Europäische Union damit zu tun hat.

Ein Gastbeitrag von Bert Rürup

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Dr. Bert Rürup. Er ist Präsident des Handelsblatt Research Institute und Chefökonom des "Handelsblatts". Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Renate Schubert, Prof. Dr. Volker Perthes und Prof. Jörg Rochol PhD.

In den Konflikten zwischen den USA, China, Russland und Europa ist oft von „westlichen Werten“ die Rede. Bis in die Neuzeit stand der „Westen“ für das „Abendland“, geprägt von griechischer Philosophie und Christentum. Ab dem späten 18. Jahrhundert traten dann die Errungenschaften der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – hinzu. Für den Historiker Heinrich August Winkler verkörpert „der Westen“ daher in geradezu idealer Weise die Idee von Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Menschenwürde – den Gegenpol von Diktatur und Autokratie.

Die „Werte des Westens“ gelten als Fixstern für die Entwicklung demokratischer Industriestaaten, die in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich oft durch ein Mehr an Liberalität und Partizipation gekennzeichnet war. Dennoch ist Winklers Diktum gerade aus Sicht eines Historikers überraschend. Denn der europäische Kolonialismus und Imperialismus vom Ende des 15. bis weit ins 20. Jahrhundert spricht eine andere Sprache: nicht die Sprache der Menschenrechte und Menschenwürde, sondern die der gewaltsamen Eroberung, meist blutigen Unterdrückung und Ausbeutung anderer Länder. Das gilt in abgeschwächter Form auch für die USA: Seit der Monroe-Doktrin aus den 1820er-Jahren betrachtete Washington Lateinamerika lange als seinen „Hinterhof“ – und behandelte ihn auch dementsprechend.

Historisch gesehen ist der Topos von der moralischen Überlegenheit des „Westens“ durch seine Gewaltgeschichte übel befleckt. Die Frage stellt sich, wie es in der Gegenwart aussieht.

Die USA als „Fackelträger demokratischer Freiheit“ zu bezeichnen, wäre während der Präsidentschaft von Donald Trump wohl selbst überzeugten Atlantikern nicht in den Sinn gekommen. Trumps Verachtung demokratischer Spielregeln war ebenso unübersehbar wie seine Hochachtung von Diktatoren. Er hat die ohnehin gespaltene und in Teilen nach wie vor rassistische US-Gesellschaft weiter polarisiert.

In der Europäischen Union sieht es nicht viel besser aus

Trump schaffte es, Millionen von US-Bürgern glauben zu machen, ihm sei der Wahlsieg gestohlen worden. Damit hat er die Axt an den Grundpfeiler des demokratischen Prinzips vom friedlichen Machtwechsel gelegt. Trotz der Billionenprogramme dürfte es seinem Nachfolger Joe Biden so bald nicht gelingen, die tiefen Gräben in der US-Gesellschaft zuzuschütten - obwohl Biden ebenfalls eine „America-first“-Politik betreibt, nur mit deutlich leiseren Tönen. Beispielhaft dafür steht das Verbot, Corona-Impfstoffe zu exportieren. Die Rückkehr der US-Außen(wirtschafts)politik zum Multilateralismus ist bislang nur ein Hoffnungswert.

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In der Europäischen Union sieht es nicht viel besser aus: Wo bis zum Ende des Kalten Krieges Mauer und Stacheldraht standen, trennt heute ein tiefer ideologischer Graben die „westliche Wertegemeinschaft“. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán etwa weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen, höhlt die Pressefreiheit aus und mobilisiert den ungarischen Nationalismus mit abstrusen Verschwörungstheorien gegen den Milliardär George Soros. Orbán strebt offen eine „illiberale Demokratie“ an, will aber auf Hilfsgelder aus Brüssel nicht verzichten.

Warschau wird von der EU-Kommission mit einem Rechtsstaatsverfahren nach dem anderen überzogen, weil die in Polen regierende „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ seit Jahren die Unabhängigkeit der Justiz schreddert. Auch in Tschechien wird der Rechtsstaatlichkeit ein eher diffuser Stellenwert beigemessen. Kurzum: Die großen Erwartungen an die EU-Osterweiterung von 2004 wurden mit Blick auf die „westlichen Werte“ vielfach enttäuscht.

Dass ein oft völkischer Rechtspopulismus längst auch in den westlichen Kernstaaten Europas Fuß gefasst hat, macht die Sache nicht besser. Beifall aus China und die Unterstützung rechts-nationaler Parteien durch Russland signalisieren: Die Strategen in Peking und Moskau erhoffen sich von einem Erstarken jener Kräfte, die den Nationalstaat in den Mittelpunkt stellen, eine geopolitische Schwächung der EU.

Hinzu kommt: Die Einführung des Euros hat sich nicht, wie erhofft, als Einigungsprojekt erwiesen. Die starken Länder des Nordwestens stehen einem schwachen und durch die Corona-Pandemie noch weiter geschwächten Süden gegenüber. Wachstumsversprechen, die mit der Einführung der Gemeinschaftswährung verbunden wurden, haben sich für die Südländer nicht erfüllt. Die wirtschaftliche Heterogenität der Eurozone ist heute eher größer als bei der Einführung des Euros. Die „westlichen Werte“, dieser Eindruck drängt sich auf, haben an Strahlkraft verloren. China zeigt eindrucksvoll, wie falsch die Annahme war und ist, technologischer und wirtschaftlicher Erfolg gingen mit wachsender Liberalität von Wirtschaft und Gesellschaft einher. Vieles deutet darauf hin, dass nach der Pax Britannica auch die Pax Americana von der Weltbühne abtreten wird.

Das "Europa der zwei Geschwindigkeiten" muss endlich umgesetzt werden

Kein Land – auch nicht China – dürfte in absehbarer Zeit die Rolle einer globalen Ordnungsmacht spielen. Die Abwesenheit eines Hegemons aber lässt die internationalen Auseinandersetzungen rauer werden, wie wir es derzeit im Umgang zwischen Russland und der EU sowie dem Konflikt zwischen Moskau und Kiew erleben.

Kann da die Europäische Union der letzte Anker „westlicher Werte“ sein? Will die Staatengemeinschaft ihre rhetorisch stets hochgehaltenen Werte wieder attraktiver machen, muss die EU mit gutem Beispiel voran gehen. Das bedeutet: Es führt kein Weg an einer Vertiefung der Europäischen Union vorbei, sprich der weiteren Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die EU-Kommission bei gleichzeitiger Stärkung des Europäischen Parlaments.

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Da eine Reihe ehemaliger Ostblockländer den Nationalstaat als Symbol der Befreiung von sowjetischer Vorherrschaft und Garanten politischer Freiheit ansieht, ist der notwendige Vertiefungsprozess mit ihnen nicht zu machen. Soll es mit der Gemeinschaft vorangehen, muss jetzt das seit langem bekannte Konzept eines Europas der „zwei Geschwindigkeiten“ endlich politisch umgesetzt werden.

Ginge der Impuls dazu von Deutschland und Frankreich aus, würden sich – unter Umständen mit Ausnahme Finnlands – die nordischen und westlichen EU-Länder wohl anschließen. Die Geostrategen des integrationsbereiten „Kerneuropas“ hätten dann die Möglichkeit, die Europäische Union über den Binnenmarkt hinaus in eine wirkliche politische und wirtschaftliche Union zu verwandeln: von einer europäischen Armee über eine gemeinsame Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bis hin zur einheitlichen Finanzpolitik.

Dieses Projekt könnte Strahlkraft entfalten und Kerneuropa zu einem stärkeren, nicht nur in Sonntagsreden „wertegebundenen“ Akteur im Ringen mit China, Russland und den USA aufwerten. In jedem Fall käme man so auch der Antwort auf die Frage näher, was die Europäische Union eigentlich sein soll.

Bert Rürup

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