zum Hauptinhalt

Berlin und die Welt: Architektonisch hässlich und haarsträubend schön

Schöne Bauten sind es nicht, die Weltbürger nach Berlin ziehen, selbst Star-Architekten bauen in der Hauptstadt nur Mittelmäßiges. Warum Berlin trotzdem zieht, erklärt Schriftsteller und Tagesspiegel-Autor Peter Schneider.

Es ist nicht leicht, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum Berlin inzwischen eine der beliebtesten Städte der Welt ist. An der Schönheit der Stadt kann es nicht liegen. Wer auf einer Berliner Dachterrasse steht und den Blick über den Stadtkörper schweifen lässt, blickt nicht auf schöne Kuppeln wie in Rom, auf Zinkdächer à la Paris oder in Häuserschluchten wie in New York. Er schaut auf eine ungestaltete Landschaft von roten und bräunlichen Dächern, zwischen denen, sinnlos verstreut, solitäre Büro- und Hotelbauten in den Himmel ragen. Deren Inspirationsquelle ist offenbar der hochkant gestellte Schuhkarton gewesen.

Kein Zweifel, in der neuen Stadtmitte gibt es auch spektakulär Gelungenes: Das Reichstagsgebäude gehört dazu, das Sir Norman Foster durch die aufgesetzte Glaskuppel um Tonnen seines historischen Gewichts erleichtert hat, die Kuppel der Synagoge in der Oranienburger Straße, das Jüdische Museum von Daniel Libeskind oder die Treppe des japanischen Architekten I. M. Pei im Deutschen Historischen Museum. Schweigen wir von den engherzig restaurierten Torhäusern am Brandenburger Tor, vom protzig-klotzigen Kanzleramt, vom sogenannten Hauptbahnhof, der wie eine Raumstation in der Leere steht, vom Novotel am Tiergarten und anderen Architekturverbrechen, deren bevorzugter Tatort Berlin geworden ist. Selbst große Architekten wie Renzo Piano haben in Berlin nur Mittelmäßiges gebaut.

Dennoch: Wer in New York, Tel Aviv oder Rom auf die Frage, woher er kommt, den Namen Berlin ausspricht, erlebt unversehens Begeisterung in den Augen des Fragenden. Ohne jedes Zögern wird er von seinem letzten oder gerade geplanten Berlin-Besuch erzählen. Und wie es bei echter Liebe der Fall ist, kann er nicht erklären, warum er sich in die Stadt verliebt hat. Die Namen von weit schöneren deutschen Großstädten wie München oder Hamburg lösen keine vergleichbaren Emotionen aus.

Wenn Schönheit nicht der Punkt ist, was ist es dann? Bei Jugendlichen ist der Fall klar. Berlin ist die einzige Großstadt weit und breit, in der man für zehn Euro essen und sich betrinken kann und mit der S-Bahn auch noch morgens um vier jede Party erreicht und jeden Club. Aber zur Attraktivität einer Stadt gehört auch ihre Geschichte, ihr Mythos. Berlin, die Weltmetropole der 20er Jahre, Berlin, die ehemalige Hauptstadt des „Dritten Reichs“, in der die ungeheuerlichsten Verbrechen des letzten Jahrtausends ausgebrütet wurden, Berlin, die 30 Jahre lang durch die Mauer geteilte und nun wiedervereinigte Stadt.

Und da ist noch etwas anderes. Die Besucher zieht gerade das an, was ihnen in den schönen Städten fehlt: das Schräge, das ewig Unfertige, das Stillose, das Haarsträubende an Berlin – und die Lebendigkeit, die mit diesen Eigenschaften einhergeht. Unvollkommenheit, ja Hässlichkeit gewährt eine Freiheit, die kompakte Schönheit niemals bieten kann.

Peter Schneider lebt als Schriftsteller in Berlin und schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Politik und Kultur.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false