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Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und Kanzlerin Angela Merkel

© dpa

Außenpolitik der EU: Abschied von Blütenträumen

Wenn die Europäische Union global eine ernst zu nehmende Macht sein will, muss sie ein größeres Maß an Realismus an den Tag legen. Ein Essay von Sylke Tempel und Shimon Stein

Die Einschläge rücken immer näher. In der Ost-Ukraine liefern sich von Russland unterstützte Separatisten und die ukrainische Armee immer wieder heftige Gefechte. In Gaza erleben wir den inzwischen dritten Krieg zwischen Hamas und Israel innerhalb von nur knapp sechs Jahren. Das alles aber verblasst im Vergleich zum brutalen Vormarsch der IS im Irak. Dort hat die humanitäre Katastrophe im Nahen und Mittleren Osten ohnehin schon apokalyptische Ausmaße erreicht. Nach Syrien droht nun auch der Irak zu zerfallen – der Libanon mit seiner fragilen sunnitischen, christlichen und schiitischen Bevölkerung könnte der nächste Staat sein, der in einem erneuten Bürgerkrieg versinkt.

Nun gilt für die EU seit Jahrzehnten die Prämisse, dass es keine Stabilität und keine Sicherheit für Europa geben kann, wenn die Nachbarschaft – und dazu gehört nicht nur die Ukraine, sondern auch der Nahe und Mittlere Osten – nicht stabil ist. Jahrelang wurde diese Stabilität im Nahen Osten durch gute Beziehungen mit Diktatoren erkauft. Nach dem Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ kam gerade in Europa die naive Hoffnung auf, dass sich nun auch die Diktaturen Nordafrikas und der östlichen Levante auf den Weg in eine demokratische Zukunft begeben würden und dass, vielleicht nicht gleich, doch irgendwie unausweichlich, Rechtsstaatlichkeit und die Gleichberechtigung von Frauen, Presse- und Religionsfreiheit, Toleranz und womöglich auch wirtschaftlicher Erfolg an die Stelle von Unterdrückung und wirtschaftlichem Niedergang treten könnten.

Diese Hoffnungen haben sich zerschlagen. Im Nahen Osten herrscht jetzt Anarchie, die auch auf Europa übergreifen kann. Wie tief der israelisch-palästinensische Konflikt auch Gräben in Europas Gesellschaften reißen kann, hat sich spätestens mit den Gaza-Unterstützungsdemonstrationen in europäischen Städten gezeigt. Und so wie der Krieg nicht auf Syrien beschränkt blieb, wird er auch nicht auf den Irak beschränkt bleiben. Dass kampferprobte Dschihadisten aus Europa und den USA auch Anschläge im Westen verüben könnten, ist ein Albtraumszenario. Aber kein unwahrscheinliches.

In der östlichen Nachbarschaft zeigt Russlands Präsident Wladimir Putin zum zweiten Mal nach dem Georgien-Krieg vom August 2008, dass die Spielregeln und Normen, auf die man sich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges verständigt hatte, nur so lange respektiert werden, wie sie in sein machtpolitisches Kalkül passen.

Zum ersten Mal seit 1945 ist die EU also mit Krisen konfrontiert, auf die sie nicht im Geringsten vorbereitet war, die aber die Stabilität des Kontinents und unmittelbar die Interessen der einzelnen Mitgliedsländer gefährden. Wenn es zu ihren Interessen zählt, die territoriale Integrität von Staaten zu wahren, wie will sie sich dann in der Ukraine und im Nahen Osten engagieren und dieses Ziel erreichen? Wie will sie dem Terror, der aus dem Nahen Osten auf Europa übergreifen könnte, Einhalt gebieten? Durch Eindämmung oder Abschreckung? Wer sind die Partner der EU – gerade im komplexen Beziehungsgeflecht des Nahen Ostens? Und welche Mittel stehen der EU überhaupt zur Verfügung, um ihre Interessen zu verteidigen?

Die Schwächen der EU

Ja, die EU hat sich zu einer dritten Stufe der Sanktionen gegen Russland durchgerungen; sie hat sich bereiterklärt, eine „aktive Rolle“ bei der langfristigen Stabilisierung der Lage in Gaza zu übernehmen und sie fordert, dass „alle Terrorgruppen entwaffnet werden sollen“. Um den Vormarsch der Milizen des Islamischen Staats zu stoppen, denkt man in Deutschland – in Abkehr von einer langjährigen Doktrin, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern – auch über Lieferungen an die Peschmerga-Milizen der autonomen Kurdengebiete nach.

Das alles offenbart aber auch die Schwächen der EU. Die „gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik“ klappert der Politik der jeweiligen Mitgliedsstaaten hinterher. Eine institutionalisierte, beständige, gemeinsame Analyse der jeweiligen Situation – beispielsweise im Rahmen eines europäischen Sicherheitsrats –, die auch eine schnelle, gemeinsame Reaktion in unmittelbaren Krisensituationen erlaubt, gibt es nicht. Als Modus operandi hat sich in den vergangenen Jahren eine Methode entwickelt, nach der zunächst einzelne Staaten die Initiative ergreifen und sich dann eine Art Koalition der Willigen bildet – oder eben auch nicht. So verhielt es sich in der iranischen Atomfrage, in der sich zunächst nur die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens entschlossen, die Initiative zu ergreifen, so war es im Fall Libyens, wo Frankreich und Großbritannien eine militärische Intervention wollten, Deutschland aber nicht; so verhielt es sich wieder in der Frage von Waffenlieferungen an syrische Oppositionelle, die dann jeder Staat für sich entschied; und so verhält es sich wieder in der Frage von Waffenlieferungen an die Kurden, wo man beschloss, dass „jeder Mitgliedsstaat selbst entscheiden soll, ob man die Anfrage der Kurden positiv beantworten will“. Angesichts der humanitären Katastrophe im Irak und der Tatsache, dass dort ein Völkermord gegen die Jesiden droht, Schiiten und Kurden als Feinde der IS unmittelbar gefährdet sind und die letzten Christen nach einer jahrtausendealten Präsenz den Irak verlassen, ist das ein Armutszeugnis europäischer Außenpolitik. (Von der moralischen Frage abgesehen, warum inzwischen 180 000 Tote und mehrere Millionen Flüchtlinge im syrischen Bürgerkrieg vom Westen beinahe regungslos hingenommen wurden.)

Ganz offensichtlich muss sich die EU von einigen Blütenträumen verabschieden. Die Welt wird nicht demokratischer, sie wird anarchischer. Die demokratische Entwicklung der zentral- und osteuropäischen Staaten, auf die die EU zu Recht stolz ist, waren nur möglich, weil als Anreiz eine EU-Mitgliedschaft winkte und weil in vielen dieser Staaten ein festes Fundament demokratischer Tradition existierte. Europa also wird sich den Realitäten des 21. Jahrhunderts anpassen müssen. Die Zeiten kalt kalkulierter Macht- und Geopolitik gehören eben nicht dem 19. Jahrhundert an, sie sind nur allzu gegenwärtig. Charme und Attraktivität allein genügen nicht. Die EU wird nicht nur auf die Mittel der Soft Power zurückgreifen können, sie braucht auch das Instrument der Hard Power.

Diplomatie ist unerlässlich im Ukraine-Konflikt. Aber Diplomatie allein wird nicht ausreichen. Es wird eine Weile dauern, bis die Sanktionen wirken, auf die sich die EU geeinigt hat. Aber sie – und nicht zuletzt auch der demonstrative Besuch von Kanzlerin Merkel in Kiew am Vorabend des ukrainischen Unabhängigkeitstages – sind notwendig, um zu zeigen: Europa wird nicht einfach tatenlos zusehen, wie Separatisten in der Ost-Ukraine von Moskau ausgebildet und hochgerüstet werden oder dass neben den sogenannten „eingefrorenen Konflikten“ in Abchasien, Südossetien und Transnistrien mit der Ost-Ukraine ein weiterer Konflikt entsteht, der – im besten Fall – eine demokratische und wirtschaftlich gesunde Entwicklung der Ukraine verhindert und – im schlimmsten Fall – außer Kontrolle geraten könnte. Kurzfristige Lösungen aber gibt es nicht in der Ukraine-Krise. Die EU wird nicht ohne Weiteres zu einem „Business as usual“ mit Russland zurückkehren können, jedenfalls nicht unter der Regierung Wladimir Putins, denn Putin will keine Kooperation mit Europa, sondern eine Konfrontation mit oder gar eine Zersplitterung der EU. Und trotzdem werden die Europäer so geschickt agieren müssen, dass das Verhältnis zu Russland nicht völlig beschädigt wird. In beständiger Konfrontation mit Russland ist schließlich keine Lösung zu finden. Und: Russland bleibt Europas Nachbar.

Die EU wird also auf langfristige Lösungen setzen müssen: eine Diversifizierung ihrer Energieimporte, eine europaweit koordinierte Energiepolitik, die die Abhängigkeit von russischen Lieferungen vermindert. Sie wird ein mit enormen politischen und ökonomischen Ressourcen ausgestattetes Aufbau-Programm für die Ukraine auflegen müssen. Denn jetzt ist nicht die Frage einer zukünftigen EU- oder Nato-Mitgliedschaft akut. Jetzt steht die Herkulesaufgabe der Korruptionsbekämpfung und eines Aufbaus funktionierender demokratischer Strukturen bevor.

Nebenbei: Wenn die EU darüber diskutiert, Waffen an die Kurden zu liefern, wird sie sich auch überlegen müssen, wie sie reagieren will, sollte die Ukraine ebenfalls um Waffen bitten.

Die EU könnte sich für eine „Koalition der Willigen“ einsetzen

Diplomatie plus robuste Unterstützung sind im Fall des Gazakonflikts notwendig: Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat den Gazastreifen jüngst als „Raketenlager“ bezeichnet und gefordert, einen weiteren Schmuggel über See oder über Land zu unterbinden. Wenn man das als unmittelbaren Schritt erreichen will, um eine weitere kriegerische Auseinandersetzung zwischen Israel und Hamas zu verhindern, müssen die Europäer auch bereit sein, sich nicht nur aktiv an der Überwachung des Grenzüberganges Rafah vom Gazastreifen nach Ägypten zu engagieren, sondern auch, einen Waffenschmuggel zu unterbinden, der mit Sicherheit nicht von allein aufhören wird. Notwendig ist dabei nicht nur die Bereitschaft, eine Peacekeeping-Mission zu übernehmen, sondern sich auch in einer „peace enforcement mission“ zu engagieren. Dafür wäre selbstverständlich ein Mandat der Vereinten Nationen erforderlich.

Die Krise in Gaza könnte genutzt werden, um die Parteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen. Sowohl Ägypten als auch Jordanien, Saudi-Arabien und die Palästinensische Autonomiebehörde haben kein Interesse an einer weiteren Stärkung der Hamas. In Kooperation mit den USA und diesen arabischen Partnern könnte die EU sich für eine „Koalition der Willigen“ einsetzen, die im Rahmen der Arabischen Friedensinitiative von 2002 eine neue Verhandlungsrunde auf den Weg bringt. Immerhin ist die Friedensinitiative – die im Fall eines Endes der israelischen Besatzung die Normalisierung der Beziehungen arabischer Staaten zu Israel vorsieht – von Saudi-Arabien auf den Weg gebracht und von der Organisation islamischer Staaten akzeptiert worden.

Eine weitere, ernsthafte Verhandlungsrunde und womöglich ein Abkommen zwischen Israelis und Palästinensern wird keinen anderen Konflikt in der Region beseitigen – aber wenigstens für Stabilität in Jordanien und den Palästinensergebieten sorgen. Das ist angesichts des schon vollzogenen oder drohenden Zusammenbruchs zahlreicher Staaten in der Region nicht wenig.

Shimon Stein war von 2001 bis 2007 israelischer Botschafter in Deutschland und ist zur Zeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) an der Universität Tel Aviv.
Shimon Stein war von 2001 bis 2007 israelischer Botschafter in Deutschland und ist zur Zeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) an der Universität Tel Aviv.

© Mike Wolff

Für den Irak gilt: Das Vordringen der IS wird nicht mit mahnenden Worten oder diplomatischen Mitteln aufzuhalten sein. Die Dschihadisten des Islamischen Staates sind nicht nur eine Bedrohung für die Region. Sie sind eine Bedrohung in erster Linie für Europa, das sich in direkter Nachbarschaft befindet und für die USA. Waffenlieferungen an die Kurden mögen keine gute Option sein – und sie widersprechen einer lange gehegten Linie, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Nur: Welche ist hier die bessere Option? Kurden zu unterstützen, die sich derzeit mit völlig unzureichenden Mitteln der IS entgegenstellen? Oder ein Vordringen der IS in Kauf zu nehmen, die dann auch über Staudämme, Öl- und Gasquellen verfügen und weite Teile Iraks und Syriens nicht nur ethnisch säubern, sondern auch in ein Trainingslager für Dschihadisten verwandeln? Das Beispiel Al Qaidas zeigt: Es ist zu spät, wenn Europa erst reagiert, wenn Attentate auch in westlichen Großstädten stattfinden. Vielmehr muss das Problem vor Ort bekämpft werden. Hier böte es sich für die EU zusätzlich an, eine Koalition mit Staaten in der Region zu schmieden, um gegen die Bedrohung durch IS vorzugehen.

Sylke Tempel ist Chefredakteurin der Zeitschrift „Internationale Politik“.
Sylke Tempel ist Chefredakteurin der Zeitschrift „Internationale Politik“.

© Imago

Wenn die EU global eine ernst zu nehmende Macht sein will, wenn sie, was wesentlich wichtiger ist, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Bedrohungen abwenden und ihre Interessen verfolgen will, dann muss sie ein größeres Maß an Realismus an den Tag legen. Und dann muss sie die institutionellen und politischen Mittel bereitstellen um schnell, vereint und mit allen Mitteln auf Krisen reagieren zu können.

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