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Bundeskanzlerin Angela Merkel.

© Reuters

Angela Merkel: Aus Angst vor dem Volk

Atom, Libyen und Griechenland: Die Kanzlerin ist bei den wichtigen Themen derzeit nah beim Volk, meint Malte Lehming. Nur es nützt ihr nichts, weil die Falsche zur falschen Zeit die richtige Politik macht.

Würde eine Charakterstudie über die Deutschen im Jahre 2011 in Auftrag gegeben, dürften einige Ergebnisse unstrittig sein. In ihrer Mehrheit wollen die Deutschen keine Beteiligung an Kriegen, den Ausstieg aus der Atomenergie, eine gesunde Wirtschaft, möglichst wenig Arbeitslose, ein hohes Maß an Vollbeschäftigung. Sie bekennen sich zu Europa, murren aber, wenn sie den Süden des Kontinents unbegrenzt alimentieren sollen. Ginge es gerecht zu auf der Welt – und besonders in Deutschland –, müsste also Angela Merkel in der Heimat so geliebt werden, wie sie im Ausland geehrt wird. Doch das Gegenteil ist der Fall. Merkel macht die wohl deutscheste Politik, die je ein Kanzler gemacht hat, ihre Partei indes verliert eine Wahl nach der anderen, ihr eigenes Ansehen ist gering. Woran liegt das?

Was immer man zur Genese vieler Beschlüsse der Bundesregierung anmerken kann, richtig bleibt, dass Merkel in den drei derzeit dominierenden Themen – Atomwende, Libyen-Enthaltung, Griechenland-Rettung – mit ihrer Haltung sehr nah beim Volk ist. Eine Beibehaltung der Akw-Laufzeitverlängerung trotz Fukushima wäre höchst unpopulär gewesen. Ein Ja zum Libyenkrieg mit Beteiligung der Bundeswehr ebenfalls, siehe Afghanistan. Eine Euro-Rettung um jeden Preis, ohne Daumenschrauben in Richtung Privatinvestoren und überschuldete Länder, hätte die Geberlaune der Deutschen überstrapaziert. Was macht Merkel falsch? Wollen die Deutschen gegen ihre Interessen regiert werden?

Es wäre leicht, das Rätsel küchenpsychologisch zu lösen. Deutscher Selbsthass, der den Blick in den Spiegel nicht verträgt. Ungehemmte Demontagelust, die von Köhler über Westerwelle bis Guttenberg reicht und trotzdem ungestillt ist. Normaler Pendelausschlag zur Nörgelseite, nachdem Merkel zu Beginn ihrer Kanzlerschaft – erste Frau, erste Ostdeutsche – auf Wolke sieben schweben durfte. Doch das wäre nicht nur leicht, sondern billig, obwohl die Antwort durchaus mit Psychologie zu tun hat.

Mit Merkel macht oft die falsche Person zur falschen Zeit das Richtige – siehe Verzicht auf radikale Reformen nach dem schlechten Wahlergebnis 2005, Atomausstieg nach Verlängerungskraftakt, Abschaffung der Wehrpflicht trotz anders lautender Unions-Programmatik. Sie agiert nicht, sondern reagiert: auf Krisen (Weltwirtschaft, Euro) wie auf Ereignisse (Fukushima, arabischer Frühling, Wehrpflicht). Sie treibt keine Agenda voran, sondern wirkt wie eine Getriebene. Mit fast allen Kanzlern verbinden die Deutschen mindestens eine persönliche Lebensleistung: Konrad Adenauer – Westbindung; Willy Brandt – Ostpolitik; Helmut Schmidt – Europa und Nachrüstung; Helmut Kohl – deutsche und europäische Einheit. Nur zu Merkel fällt einem nichts ein, kein übergeordnetes Leitmotiv, das als ihr Kompass fungiert.

Wandelbar, lernfähig, flexibel, undogmatisch: So lässt sich Merkels Art ins Positive drehen. Die Kehrseite heißt: ideenlos, verheißungslos, prinzipienlos, technizistisch. Aus Angst vor dem Volk redet sie diesem nach dem Mund. Das Gefühl von Sicherheit stellt sich dadurch nicht ein. Denn die da oben muss mehr sein als ein perfekt arbeitender Entscheidungsautomat, der immer einen Mittelwert findet zwischen Sachlage und Stimmung.

Gute Politik enthält ein Versprechen. Sie richtet sich auf Zukunft, eröffnet neue Handlungsoptionen. Merkels Versprechen lautet: Ohne mich wäre vieles schlimmer. Da mag sie zwar recht haben, aber es nützt ihr nichts.

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