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Die George-Washington-Statue im Zentrum von Boston.

© Getty Images

Medizinmetropole Berlin: Alles anders an der Ostküste

Die Region Boston mit der Eliteuniversität Harvard gilt als weltweit führend im Bereich Biomedizin. Inwiefern kann sie ein Vorbild für Berlin sein?

Es sind rund 6000 Kilometer Luftlinie, die Berlin von Boston trennen. Mit der Elite-Universität Harvard, aus der seit 1934 allein 16 Nobelpreisträger für Medizin hervorgegangen sind, dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), etlichen anderen Spitzenhäusern und Forschungsinstituten und einer umsatzstarken Biotech-und Pharmaszene gilt der Raum Boston als weltweit wichtigster Standort für Biomedizin.

Obwohl Berlin bei messbaren Größen wie internationalen Hochschulrankings, Jahresbudgets oder Nobelpreisen nicht mithalten kann und auch keinen „Harvard-Nimbus“ besitzt, will die Stadt jetzt die Distanz zum großen Idol an Amerikas Ostküste verringern. Jedenfalls liest es sich so im Ergebnisbericht der Zukunftskommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hatte das im März 2019 erschienene „Empfehlungsschreiben“ persönlich in Auftrag gegeben, um die immensen Potenziale der Wissensstadt besser zu nutzen.

Die elfköpfige Kommission unter dem Vorsitz des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach beschreibt dort auf 30 Seiten, wie Berlin in den kommenden zehn Jahren eine „internationale Führungsrolle in medizinischer Innovation und biomedizinischer Forschung“ einnehmen und ihre jährlich rund 855 000 stationären Patienten auf „europäischem Spitzenniveau“ versorgen kann.

Wie misst man eine Führungsrolle?

Ambitionierte Ziele, die die Frage aufwerfen, wie man die internationale Führungsrolle eines gesamten Biotech-Hubs eigentlich messen will. Einer, der als stellvertretender Vorsitzender mit in der Zukunftskommission saß, ist Heyo Kroemer. Der Pharmakologe, damals noch Vorstand der Universitätsmedizin Göttingen und seit einem Jahr Vorstandsvorsitzender der Charité in Berlin, meint, solche Bewertungen seien nicht ganz einfach. „Biomedizinische Standorte lassen sich nur ganz schwer direkt miteinander vergleichen“, sagt er.

Besonders wenn die Systeme so unterschiedlich sind wie in den Vereinigten Staaten und Deutschland, hinken die Vergleiche. Die USA haben ganz andere Finanzierungsstrukturen, ein äußerst selektives Universitätssystem, extrem hohe Studiengebühren und einen viel stärkeren Fokus auf wirtschaftliche Anreize. Zum Beispiel muss ein Hochschulprofessor in der Regel sein eigenes Einkommen zu einem erheblichen Teil über die Einwerbung von Drittmitteln finanzieren – undenkbar in Deutschland. Dafür ist es jenseits des Atlantiks deutlich einfacher, an Fördergelder heranzukommen. Risiken und Chancen liegen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bekanntlich sehr viel näher beieinander. Dieses Prinzip gilt auch für das aus deutscher Sicht unsolidarische Krankenversicherungssystem, bei dem der Geldbeutel über die Versorgung entscheidet. Viele Amerikaner sind zudem unzureichend oder gar nicht krankenversichert.

So gesehen kann und soll aus Berlin auch gar kein zweites Harvard werden. „Es ging nie darum, einen Standort 1:1 zu kopieren, sondern sich Teilaspekte von den Besten abzugucken, wo man sagen kann: Das haben die richtig gut gelöst“, erzählt Heyo Kroemer. Was die Kommission daher zunächst gemacht hat, war, sich die Ausgangsstrukturen von Berlin anzuschauen. Was hat die Stadt, was kann die Stadt und was könnte die Stadt vielleicht von der internationalen Konkurrenz lernen, waren Kroemer zufolge die Ausgangsfragen, die man sich ergebnisoffen gestellt habe.

Ein riesiger Versorgungs- und Forschungsraum ist entstanden

Vorbildlich gelöst hat Harvard das Schaffen einer kritischen Masse. Schon vor zwanzig Jahren sind die international besten Unikliniken – das Massachusetts General Hospital und das Brigham and Women’s Hospital ein Kooperationsnetzwerk namens „Partnershealthcare“ eingegangen (kürzlich umbenannt in „Mass General Brigham“), dem heute eine Reihe weiterer außeruniversitärer Häuser angehören. Unter Wahrung der eigenen Identität können alle Partner auf ein gemeinsames IT-System und damit auf sämtliche Patientendaten des Netzwerks zurückgreifen, wodurch ein riesiger Versorgungs- und Forschungsraum entstanden ist. Weltweit ist dieser Trend zu großen Klinik-Konglomeraten zu beobachten, auch in London, Paris oder Skandinavien.

Diese Vorbildstruktur will Berlin nun nachahmen, indem man Charité und Vivantes näher zusammenführt. Beide landeseigenen Klinikkonzerne verfügen gemeinsam über 9000 Betten und versorgen somit 50 Prozent der stationären Patienten in der Metropole Berlin. Eine kritische Masse ist damit erreicht. Dreh- und Angelpunkt ist eine kompatible IT- und Dateninfrastruktur mit einer über beide Partner nutzbaren elektronischen Patientenakte. Der Plan wird von IT-Experten bereits intensiv vorbereitet, sodass Berlin noch weit vor 2030 ein wichtiges Etappenziel erreichen dürfte: „So ein großer Raum für die Versorgungsforschung wird Berlin international wettbewerbsfähig machen und Spitzenleute anziehen“, ist Charité-Chef Kroemer überzeugt, „aber auch die stationäre Krankenversorgung wird dadurch deutlich verbessert.“ Vorstellbar sei auch, weitere Häuser in ein solches Kliniknetzwerk einzubeziehen.

Und dann ist da noch ein Trumpf: Das Berliner Institut für Gesundheitsforschung – kurz BIH – wird zum 1. Januar kommenden Jahres in die Charité integriert. Damit ist zum ersten Mal der Bund an einem Universitätsklinikum beteiligt. Ein Meilenstein für Deutschland – und für Berlin: Denn mit dem BIH, das dann mit dem international angesehenen Max-Delbrück Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch über eine spezielle Partnerschaft verbunden sein wird, können und sollen Forschungsergebnisse schneller in die Klinik gelangen. Diese zusätzliche Translationssäule ist bundesweit einmalig.

Wer eine smarte Idee hat, kommt einfach an hohe Summen

Doch bis Berlin in diesem wichtigen Feld an amerikanische Vorbilder anknüpfen kann, muss noch viel Wasser die Spree hinunterfließen. Die Amerikaner sind darauf getrimmt, Forschungserkenntnisse in Kooperation mit Unternehmen weiterzutreiben, um neue Therapien und Medikamente auf den Markt zu bringen. „Diesen Punkt haben die richtig gut gelöst“, sagt Heyo Kroemer. „Da sind uns die USA sehr weit voraus.“

Risikokapitalfonds, die es hier in diesem Ausmaß nicht gibt, erleichtern und beschleunigen die Sache. Wer eine smarte Idee hat, kommt relativ einfach an hohe Summen, um etwa ein Start-up zu gründen. Und wer dann scheitert, wird trotzdem gelobt und ermutigt, es ein zweites Mal zu probieren. Von dieser positiven Kultur des Scheiterns könne sich Deutschland ruhig ein Scheibchen abschneiden, findet Kroemer.

Wie wichtig die schnelle Translation von Forschung ans Krankenbett ist, zeigt aktuell die Coronakrise. Sie zeigt aber auch, dass amerikanische Krankenhäuser ihre Covid-19-Patienten nicht besser versorgen konnten als deutsche; dass die Intensivstationen in Boston nicht besser waren als die in Berlin – trotz Harvard-Nimbus, Top-Plätzen in den Hochschulrankings, milliardenschwerer Stiftungsvermögen und einer beneidenswerten Zahl an Nobelpreisträgern.

Beatrice Hamberger

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