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Reife Leistung ohne Ausbildung und Lebensweisheit. Den Hip-hop liebenden Morris (Markees Christmas) hat es im ARD-Filmdebüt nach Heidelberg verschlagen.

© SWR/Lichtblick

Kindercasting in Film und Serie: Jugend forsch!

Kindercasting bei Spielfilm, Serie oder „Tatort“: Ein Blick in die Welt des Schauspielnachwuchses. Manche Eltern muss man dabei vor sich selber schützen.

Markees Christmas hat nicht nur einen echt seltsamen Namen, als „Morris aus Amerika“ verkörpert der Schauspieler im gleichnamigen Film auch einen echt schrägen Vogel. Anders als die Eingeborenen seiner süddeutschen Schule ist der farbige Eigenbrötler schließlich leicht pummelig und kann kaum Deutsch, dafür aber rappen wie kein zweiter in Heidelberg. Morris, so zeigt sich in dieser betörenden Coming-of-Age-Story rasch, ist ein Sonderling der besonderen Art. Und dass man es ihm 90 Minuten lang glaubt, als sei er nicht fiktiv, sondern real, liegt an diesem schrägen Vogel mit dem seltsamen Namen. Da überrascht es wenig, wie Chad Hartigan von ihm schwärmt.

„Wahnsinn“, nennt der Regisseur die Seele seines zweiten Langfilms, der diese Woche im Rahmen des FilmDebüts im Ersten gelaufen und bis Mittwoch in der ARD-Mediathek zu finden ist, „ein Wunder“. Markees Christmas, bei den Dreharbeiten vor drei Jahren kaum 15, spielt den Sohn eines New Yorker Sporttrainers mit einer reduzierten Inbrunst, die sprachlos macht – und beschwingt. Während Papa Curtis begleitet vom veralteten Sprechgesang seiner eigenen Jugend alles tut, damit sich Morris fern der Heimat zu Hause fühlt, kompensiert der Teenager die Entfremdung mit dem Gangsta-Rap der Bronx. HipHop ist das bindende, aber auch trennende Element beider Generationen. HipHop scheint dem 13-Jährigen Zugang zur Welt der Gleichaltrigen zu verschaffen.

Dummerweise erweist sich dieser HipHop als gefährlich, wenn man seiner stillen Liebe (Lina Keller) damit auf der Bühne eines Talentcontests imponieren will, während alle Welt ihn für einen Trottel hält. Die Fallhöhe zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Selbstzweifel und Trotz füllt Markees Christmas mit einer Aura, die ohne viel Getöse Funken versprüht. Fazit: „Morris aus Amerika“ ist die reife Leistung eines Jungen ohne Ausbildung und Lebensweisheit, aber mit der Kraft von Talent und Leichtigkeit.

Der Spielfilm ist ein gutes Beispiel, um einen Blick in die Welt des Schauspielnachwuchses zu werfen. Leider ist diese Kraft für Film und Fernsehen umso schwerer zu kriegen, je härter es darin zugeht. Selbst bleischwere Sozialdramen kommen selten ohne Beteiligung Minderjähriger aus. Während Kinder im Kinderfilm auch kindlich sein dürfen oder bei „Dr. Kleist“ artig das Herz des Stammpublikums über 60 berühren, gibt es zunehmend Stoffe, die selbst Erwachsene an ihre Belastungsgrenze bringen. Obwohl sie allenfalls Fortbildungen besucht haben, zeigt ein Blick ins Programm, zu welcher Güte selbst Grundschüler allerdings oft fähig sind. Ein gutes Beispiel dafür war Rainer Kaufmanns „Operation Zucker“.

Erst zehn Jahre alt, spielte Paraschiva Dragus 2012 die Kinderprostituierte Fee mit so stoischem Ernst. An der Seite ihrer älteren Schwester Maria hatte die Deutsch-Rumänin schon im Schwarzweißdrama „Das weiße Band“ brilliert. Doch für Heranwachsende ist, abgesehen von Krieg, kein härterer Stoff denkbar als Missbrauch. Warum das Filmthema dennoch keine Spuren in der jungen Darstellerseele hinterlassen hat, weiß deren damalige Agentin. „Was Spiel ist und was Realität“, sagt Dorothea Trebs, „konnte Paraschiva schon früh genau unterscheiden“. Eine seltene Fähigkeit, nach der auch die renommierte Kinder-Casterin Jacqueline Rietz aus Potsdam sucht.

Seinem Alter weit voraus

Zweit- und Drittklässler, die sie im Vorjahr an den Dresdner „Tatort“ zum Thema Pädophilie vermittelt hat, „müssen zwar nicht in jeder Szene wissen, was da genau Furchtbares passiert“. Aber als der elfjährige Luis Kurecki in einem Fall der Berliner „Tatort“-Kommissare Rubin und Karow auftrat, war sie selber erstaunt, wie gut dieser sich in seinen Mörder mit Asperger einfühlen konnte. „Der ist seinem Alter weit voraus.“ Damit Kinder die Notwendigkeit drastischer Szenen verstehen, ohne den Spaß am Spiel zu verlieren, ist aber nicht nur Empathie nötig. Vom Sozialamt über die Regie bis hin zu Psychologen hilft das ganze Team bei der Betreuung am Set.

Anders als Filme wie das Sequel von „Operation Zucker“ namens „Jagdgesellschaft“ suggerieren, in der die damals achtjährige Carlotta von Falkenhayn zur festen Größe trister Gesellschaftsstudien wuchs, ist das Kindeswohl offenbar doch heilig im angeblich so kinderfeindlichen Deutschland. Auch deshalb hat es Nico Ramon Kleemann 2013 keinesfalls geschadet, in Christoph Röhls Odenwaldschulen-Rekonstruktion „Die Auserwählten“ ein Vergewaltigungsopfer von schwer verdaulicher Authentizität zu mimen. Mittlerweile fast volljährig, weist der Rotschopf ein Dutzend Filmeinsätze auf.

Was aber nicht heißt, dass früher Erfolg mit reifem Inhalt folgenlos bleiben muss. Nach seiner umjubelten Premiere im Psychothriller „Shining“ war Danny Lloyds Filmkarriere mit sechs auch schon wieder vorbei. Kaum länger dauerte sie beim noch jüngeren Harvey Stephens, dessen Debüt als Satan persönlich 1976 nicht nur sein drittletztes Werk war, sondern so verstörend, dass er sich „Das Omen“ erst mit 17 ansehen konnte.

Womit wir bei Linda Blair wären. Für ihre Teufelsaustreibung im „Exorzist“ erntete der Teenager drei Jahre zuvor beinahe den Oscar, aber auch eine kaputte Jugend. Macaulay Culkin glitt vom arglosen „Kevin allein zu Haus“ direkt in den Drogensumpf. Auch wegen solcher Beispiele rät Maria Schwarz zum behutsamen Karrierestart. Die erste Frage ihrer Agentur für junge Schauspieler in Köln laute stets: „Warum willst du schauspielern?“

Angesichts von 1000 Euro, die Halbwüchsige in einer der jährlich 10 000 Film- und Serienproduktionen schon mal pro Drehtag kriegen, müsse der Spaß im Vordergrund stehen. Auch ihr Kollege Achim Gebauer castet nach „Persönlichkeit und Ausstrahlung“ statt Ehrgeiz, gar Profitgier. „Tennis-Eltern, die ihre Kinder pushen“, betreut seine Berliner Agentur Tomorrow keine. Wenn sie nicht grade von Helikopter-Dads wie Til Schweiger oder Uwe Ochsenknecht in die Branche gepresst werden, werden die meisten Nachwuchsstars ohnehin auf dem Spielplatz entdeckt oder im Café.

Vier Jahrzehnte nach seinem Debüt in der ZDF-Serie „Neues aus Uhlenbusch“ beweist Moritz Bleibtreu zwar, dass man sich auch als Spross einer Bühnenfamilie durchsetzen kann. Die meisten Frühstarter indes sind Zufallsprodukte. Wie Markees Christmas. Er wurde in der Schule gecastet. Kenner sagen ihm eine große Laufbahn voraus.

„Morris aus Amerika“, noch bis Mittwoch, 27. 6., in der ARD-Mediathek

Jan Freitag

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