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Sisyphos-Arbeit. Die Artikel bei Wikipedia müssen ständig überprüft werden, schließlich wächst auch das Wissen permanent. Foto: imago

© imago/MiS

Interview: „Wikipedia macht süchtig“

Peter Cüppers ist 86 und eifriger Wikipedia-Autor. Bereits 19.000 Mal hat er Beiträge verbessert. Ein Gespräch über Oma-taugliche Artikel, Besserwisser und Chemie.

Herr Cüppers, Sie sind 86 Jahre alt und eifriger Wikipedia-Autor. Bereits 19 000 Mal haben Sie Beiträge verbessert?
Ja, Wikipedia zählt das. Im Schnitt waren es acht Änderungen pro Tag. Dazu zählen aber auch die Beiträge auf Diskussionsseiten, die machen bei mir ungefähr die Hälfte meiner Einträge aus. Ich bin fast jeden Tag bei Wikipedia.

Was reizt Sie an dem Internet-Lexikon?
2006 saß ich am Computer und wollte ein Wort im Lexikon nachschlagen, war allerdings zu faul, aufzustehen. Also blieb ich am Computer, weil ich mir sagte, das muss es doch eigentlich auch im Internet geben. Als ich dann den Wikipedia-Artikel las, bemerkte ich einen Kommafehler, ich habe auf ,Bearbeiten’ geklickt und dann war’s geschehen. Ich habe dann immer weiter in der Wikipedia gelesen. Wann immer ich ein neues Lexikon in der Hand habe, lese ich zuerst Artikel über Dinge, bei denen ich mich gut auskenne, um zu prüfen ob das Lexikon in Ordnung ist. So bin ich dann auch verschiedene Wikipedia-Artikel aus meinem Fachgebiet durchgegangen.

Sie sind von Beruf Chemiker ...
Ja, die Artikel in dem Bereich waren ganz in Ordnung, aber ich entdeckte hier und da auch einige Fehler, die ich dann verbessert habe.

Fiel Ihnen das leicht?
Ja, einen Artikel zu bearbeiten ist sehr einfach. Zusätzlich hat jeder Artikel eine Diskussionsseite, wo ich Dinge reinschreibe, die ich in Erinnerung habe, damit später jemand, der das genau weiß oder belegen kann, es in den Artikel schreiben kann.

Und das also beinahe täglich?
Ja, bei mir hat es den Effekt gehabt wie bei vielen anderen auch: Wikipedia macht süchtig. Man muss sich selbst bremsen, nach meinen ersten 20 Änderungen habe ich erst mal eine Pause eingelegt.

Wie blicken Sie auf Ihre eigene Studienzeit, wenn Sie diese mit dem Lernen im Internetzeitalter vergleichen?
Es wäre ganz wichtig gewesen, wenn es die Wikipedia zu meiner Studienzeit schon gegeben hätte. Ich hatte mir als Student selbst eine kleine Kartei angefertigt, mit Erklärungen verschiedener chemischer Begriffe oder Stoffe, alphabetisch sortiert. Ich habe das aber leider nicht fortgesetzt, weil es einfach zu viel wurde, die neuen Wörter, die man an den Kopf geworfen bekam, überschlugen sich ja während der Vorlesungen.

Wie sieht die Arbeit in der Redaktion Chemie aus, in der Sie Mitglied sind?
Wir haben eine Diskussionsseite für die Redaktion. Dort werden Dinge besprochen und Fragen geklärt wie: Bringen wir ein bestimmtes Thema überhaupt? Wenn ja, wie? Wir helfen uns auch gegenseitig, wenn beispielsweise jemand einen Fehler in einem Artikel entdeckt aber nicht weiß, wie es richtig ist. Wir diskutieren dann, um eine optimale Lösung zu finden. Die Redaktion Chemie trifft sich außerdem einmal im Jahr irgendwo in Deutschland, um sich persönlich kennenzulernen.

Internetforen können ja auch sehr rau im Ton sein ...
Das kommt durchaus vor, manchmal kann ein Streit etwas eskalieren. Gelegentlich wird man angegriffen für etwas, was man geschrieben hat. Das sind zum Teil sehr dauerhafte Geplänkel, teilweise auch unschön. Aber wenn es zu schlimm wird, gibt es in der Wikipedia Schlichtungsmechanismen, die man dann in Anspruch nimmt, es gibt auch ein Schiedsgericht. Dort werden solche Konflikte dann endgültig bereinigt.

Schreiben Sie auch selbst ganze Artikel?
Ich habe insgesamt etwa zehn Artikel verfasst. Zum Beispiel über den Literaturnobelpreisträger von 1917, Karl Adolf Gjellerup. Er gehört zur Familie, war aber noch nicht in der Wikipedia, deshalb habe ich einen Artikel für ihn geschrieben.

In welchen Wissensgebieten sind Sie heute in der Wikipedia unterwegs?
Vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich. Kürzlich habe ich die Artikel Kernfusionsreaktor und Fusionsenergie sprachlich auf Vordermann gebracht. Manchmal verbessere ich aber auch Grammatikfehler in Artikeln über Dinge, von denen ich gar nichts verstehe.

Sie wollen Artikel „Oma-tauglich“ machen. Was heißt das?
Das Wort „oma-tauglich“ ist Wikipedia-Jargon und meint nicht die reale Oma sondern den Leser „Ohne mindeste Ahnung“. Besonders bei Mathematikern und Physikern merke ich, dass diese ihre Artikel in Fachchinesisch verfassen, was niemand versteht. Daraus eine „oma-taugliche“ Version zu machen heißt also, den Artikel so aufzubereiten, dass ihn auch jemand lesen kann, der auf dem Gebiet kein Experte ist. Es muss verständlich sein. Wenn in der Einleitung ein Fremdwort mit sieben anderen Fremdwörtern erklärt wird, dann hat kein Mensch etwas davon. Oder wenn ein Fremdwort benutzt wird, bevor es erklärt wird. Oder wenn ich einen Satz zweimal lesen muss, um ihn zu verstehen, stimmt etwas daran nicht.

Reden Sie mit Altersgenossen über Wikipedia oder das Internet?
Ich kommuniziere sehr viel mit anderen Autoren auf den Diskussionsseiten in der Wikipedia, das ist aber nicht meine Altersklasse. Aus meiner Schulzeit kommen gerade noch drei zum jährlichen Klassentreffen. Die wissen zwar, dass ich bei Wikipedia tätig bin, ich habe aber nie versucht, sie auch dorthinzubringen. Ich glaube, die gehen gar nicht ins Internet.

Wie lange brauchen Sie, um einen Wikipedia-Artikel zu verfassen?
Das zieht sich immer eine ganze Weile hin, weil ich phasenweise daran arbeite. Bei der Wikipedia ist es außerdem so, dass man anfängt, dann aber andere eingreifen können mit ihren Ideen, wodurch der Artikel dann wächst.

Nervt es nicht manchmal, wenn immer jemand dazwischenpfuscht?
Manchmal schon. Dann muss man demjenigen erklären, dass das, was er da schreibt, Unsinn ist, woraus sich auch Streit entwickeln kann. Zum Beispiel, wenn jemand nicht einsieht, dass ich als Zeitzeuge über die NS-Zeit einiges besser weiß. Ich würde nicht bei Wikipedia bleiben, wenn jedes Mal, wenn ich etwas schreibe, ein anderer es verbessern würde. Ich kann sagen, dass weit über 90 Prozent meiner Beiträge Bestand haben.

Sie rufen zu Spenden für Wikipedia auf. Was würde passieren, wenn das Lexikon sein Modell auf Finanzierung durch Werbung umstellen würde?
Das ist völlig unerwünscht. Dann käme eine Abhängigkeit zustande, die wir nicht wollen. Um diese Abhängigkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist jede Form von Werbung und die Finanzierung dadurch unerwünscht. Wikipedia erhält mehrere Millionen Spenden pro Jahr.

Herr Cüppers, vielen Dank für das Gespräch ...
Nein, wir sind noch nicht fertig, denn ich muss noch etwas loswerden: Ich würde jeden Senior auffordern und ihm wünschen, sich mal an der Wikipedia zu versuchen. Die Generation der Senioren ist gefragt mit ihrem Wissen. Es ist eine erfüllende Beschäftigung im Alter, die ich jedem empfehlen kann.

Das Interview führte Judyta Smykowski.

Peter Cüppers, 86, ist promovierter Chemiker. Der gebürtige Dresdner lebt in Paderborn. Er hat seit 2006 bereits 19 000 Verbesserungen in Wikipedia-Artikeln vorgenommen.

Judyta Smykowski

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