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Raus aus Deutschland. Jan Schneider (Fabian Busch) ist einfacher Anwalt, doch den totalitären Machthabern ein Dorn im Auge. Als ihm Haft und Folter drohen, flieht er mit Frau Sarah (Maria Simon, l.) und Tochter Nora Schneider (Athena Strates) nach Afrika.

© WDR/Anika Molnár

Flucht-Dystopie in der ARD: Verkehrte Welt

Provokant vielleicht, aber grandios? Europäer im Schlauchboot, Afrika als Zufluchtsort: Der ungewöhnliche TV-Film „Aufbruch ins Ungewisse“.

Jan Schneider (Fabian Busch) kommt mit einer blutenden Wunde am Kopf nach Hause. Er sei einer Bürgerbrigade in die Quere gekommen, sei denunziert worden, sagt er. „Die Verhaftungen gehen heute Nacht schon los.“ Anwalt Jan, Spezialgebiet Mietrecht, will mit einem Frachter Richtung Afrika vorausfahren, dann die Familie nachholen. Doch seine Frau Sarah (Maria Simon), eine Lehrerin, dringt darauf, mit den beiden Kindern nicht zurückgelassen zu werden.

Europa sei im Chaos versunken, hieß es zuvor per Einblendung. Rechtsextreme hätten in vielen Ländern die Macht übernommen. Der Fernsehfilm „Aufbruch ins Ungewisse“ (Regie: Kai Wessel, Drehbuch: Eva und Volker A. Zahn, Gabriela Zerhau) hält sich allerdings mit dem politischen Szenario nicht lange auf. Die Zukunftsvision wird nur skizziert. Die Nachrichtenbilder von verhafteten Journalisten erinnern an die gegenwärtigen Verhältnisse in der Türkei.

Das riesige Konterfei von Kanzler Meyer auf der Hauswand wirkt wie ein Zitat von George Orwells „1984“. In seiner Rede klingt er wie Björn Höcke, der sich zum Herrscher aufgeschwungen hat und nun seine Gegner verhöhnt, weil die ihn so lange unterschätzt haben. Schnell packt die Familie Schneider ihre Sachen, wobei insbesondere die ältere Tochter Nora (Athena Strates) nur widerwillig mitkommt. Auch die folgende Odyssee wird arg abgekürzt. Nach dem nächsten Schnitt sieht man die Familie bereits erschöpft in dem Schlauchboot vor der Küste Namibias.

Die Dystopie dauert also gerade mal bis zum Ende des Vorspanns. Danach erzählt der Film zwar von einer fiktiven Zukunft, die aber exakt der Gegenwart gleicht, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Mitteleuropäer fliehen und begehren Asyl in afrikanischen Ländern. Jan, Sarah und Nora können sich vor dem Ertrinken retten, von dem siebenjährigen Nick (Ben Gertz) jedoch fehlt jede Spur. In Sorge um ihren Sohn und Bruder erleben sie nun all das, womit Menschen heutzutage konfrontiert sind, wenn sie vor den Verhältnissen in der Heimat fliehen und auf Aufnahme in einem sicheren Land hoffen.

In Deutschland könnten bald Rechtsextreme die Macht übernehmen

Schlepper, die ihre Not ausnutzen. Die Furcht, gleich wieder abgeschoben zu werden. Ein karges, eintöniges Dasein in Flüchtlingscamps hinter Stacheldraht. „Es besteht ja die Gefahr, dass man angesichts der Flut immer gleicher Bilder zu diesem Thema irgendwann abstumpft“, sagt Produzentin Kirsten Hager. Um trotzdem das Interesse des Publikums zu wecken und eine „emotionale Identifikation mit den Flüchtlingen“ zu ermöglichen, sei die „grandiose und provokante Idee“ entstanden, ein Boot mit Europäern auf die afrikanische Küste zusteuern zu lassen.

Provokant vielleicht, aber grandios? Der Perspektivenwechsel hat zwar den interessanten Effekt, dass Afrikaner hier mal nicht die Notleidenden sind, die gerettet werden müssen, sondern selbst die Retter – und auch die erbarmungslosen Schlepper und unfreundlichen Bürokraten.

Die Darstellung ist aber derart genau der gegenwärtigen Realität abgeschaut, dass die pädagogische Absicht geradezu ins Auge springt. Und anzunehmen, dass ein solcher Film das Publikum mehr berührt, weil es sich um eine weiße, deutsche Familie handelt, ist mindestens traurig. Kann nicht eine starke Geschichte mit lebendigen Figuren ausreichend Mitgefühl erzeugen, ganz unabhängig von Herkunft und Hautfarbe? Wenn das nicht mehr gilt, dann ist die Vision, in Deutschland könnten bald Rechtsextreme die Macht übernehmen, vielleicht wirklich nicht so weit entfernt.

Im namibischen Camp angekommen, drückt sich Familie Schneider vor der Registrierung, denn die Regierung hat Deutschland gerade als sicheres Herkunftsland eingestuft. Somit droht die sofortige Abschiebung. Bevor Jan, Sarah, Nora und andere von Schleppern illegal über die Grenze nach Südafrika gebracht werden, lässt sich die Mutter aber doch registrieren, in der Hoffnung, den Beamten zur Suche nach Nick bewegen zu können. Damit setzt sie die Möglichkeit aufs Spiel, Asyl in Südafrika zu erhalten – all das darf man als kritischen Verweis auf die gegenwärtige Flüchtlingspolitik verstehen.

Überzeugend erzählt werden die familiären Konflikte, die gegenseitigen Schuldzuweisungen, die Verzweiflung über den möglichen Verlust des Sohnes und vor allem das Ausgeliefertsein. Der Spielraum der Protagonisten ist buchstäblich begrenzt. Das gilt in extremen Situationen wie in dem verschlossenen Lastwagen auf der letzten Etappe nach Südafrika. Das gilt aber auch für das alltägliche Leben in den Camps. Maria Simon (vor allem bekannt als Kommissarin im „Polizeiruf 110“) und Fabian Busch spielen Figuren im Wartestand.

Wie gelähmt und in sich gekehrt wirkt die Mutter, ruhelos und mit seinem Gewissen ringend der Vater. Nora wird von den heimischen Freundinnen in den sozialen Netzwerken geblockt und sucht nun Anschluss an andere Jugendliche, die das Camp heimlich verlassen und in einer Villa Party machen. Auch Nicks Schicksal wird am Ende enthüllt – es ist fiktiv und real zugleich, keine Zukunft, sondern Gegenwart.

„Aufbruch ins Ungewisse“, Mittwoch, ARD, 20 Uhr 15.

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