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Arbeit am Diskurs: Die Community-Moderatoren haben eine wichtige Aufgabe beim Tagesspiegel. Kein Leserkommentar wird ungelesen im Forum veröffenlicht.

© Kitty Kleist-Heinrich

Debattenkultur beim Tagesspiegel: Eine Zensur findet nicht statt

Wie können wir die Debattenkultur verbessern? In unserer Jubiläumsausgabe "70 Jahre Tagesspiegel" schrieben Atila Altun und Markus Hesselmann über unsere Community. Hier stellen wir ihren Beitrag zur Diskussion. Kommentieren Sie mit!

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Warum er ein derart beliebter Blitzableiter sei, wurde der Schriftsteller Jonathan Franzen in einem Interview über seinen Roman „Unschuld“ gefragt und an seine vielfältige Gegnerschaft unter Digital Natives, Umweltschützern und Feministen erinnert. Er vertrete nun einmal starke Meinungen, antwortete er, sei öffentlich sichtbar, daher privilegiert...

Aber eigentlich gehe es ihm um folgendes: „Ich versuche, Ideen zu erkunden. Sie mögen nicht, was ich sage? Debattieren Sie mit mir.“ Das könne in durchaus liebevollem Einvernehmen geschehen. „Denn genau so gewinnen wir neue Einblicke.“ Das Problem sei aber, dass viele der Blitze, die bei ihm einschlügen, eben keine durchdachten Argumente seien, die auf seine durchdachten Argumente reagierten. Allzu schnell werde es persönlich.

Dazu passt, dass es in „Unschuld“ ums Internet geht, mit dem einerseits Hoffnungen auf einen offenen, fairen, gleichberechtigten Diskurs verbunden werden, andererseits – und zuletzt scheint diese defensive Sicht sich wieder mehr durchzusetzen – aber auch Sorgen um ein Versinken öffentlicher Debatte im Morast der Ressentiments und Hassbotschaften. Jonathan Franzen hat einen Roman geschrieben, der sich mit dem Web auseinandersetzt, ohne dabei in gestanzte Zivilisationskritik zu verfallen wie zuletzt David Eggers mit „Der Circle“.

Ich bin überzeugt, dass in der Anonymität die wichtigste Grundlage der enormen Meinungsvielfalt liegt. Sie sollte unbedingt bestehen bleiben!

schreibt NutzerIn heiko61

Dem fast schon sektenhaften, an der Enthüllungsplattform Wikileaks entlangerfundenen „Sunlight Project“, stellt Franzen den modernen Journalismus des stiftungsfinanzierten Online-Investigativmagazins „Denver Independent“ gegenüber, der Internet und Social Media als Instrumente und Erweiterungen journalistischen Handwerks versteht und mit klassischer Recherche sowie über Jahre erarbeitetem Wissen verbindet. Am Ende aber sei „der Denver Independent genauso wie das Sunlight Project untrennbar mit dem Internet verbunden“, erwidert der Chefredakteur des Online-Magazins auf allzu globale Kritik an „falschen Verheißungen des Internets und der sozialen Netzwerke“.

Liberal heißt nicht anarchisch

Der Tagesspiegel hat mit seiner traditionell liberalen Haltung, seiner intelligenten Leserschaft und den vielen gut ausgebildeten, erfahrenen Kolleginnen und Kollegen die besten Voraussetzungen, das Internet für einen aufklärerischen öffentlichen Diskurs nutzbar zu machen. Im nächsten Jahr werden es zwanzig Jahre sein, in denen wir daran arbeiten, unseren Journalismus und unsere Debattenkultur mit dem Internet zu verbinden und digital zu erweitern. Mehr als ein Viertel seiner siebzig Jahre ist der Tagesspiegel auch im Netz präsent.

Zu einem Diskurs, wie wir ihn uns vorstellen, gehören gewisse Regeln. Liberal heißt nicht anarchisch. Das derzeit schlechte Image der Debatten im Netz – in einer Studie wurde festgestellt, dass sie dem Image von Zeitungen angeblich sogar in ihrer Gesamtheit und unabhängig vom Inhalt der Kommentare schaden – rührt von der Wahrnehmung her, dass dort das Recht des Stärkeren gelte, ein Gebrüll herrsche, bei dem es um Lautstärke gehe und nicht um argumentative Auseinandersetzung. Dem arbeiten wir mit unserem Forum entgegen.

Das angedachte Post-Identverfahren ist m.E. eine zwangsläufig weitere Maßnahme - wider dem Zeitgeist - kritische Kommentare zu verhindern. Ich halte den Tagesspiegel weder für liberal noch für tolerant.

schreibt NutzerIn Oblomow

Auf der anderen, sich weniger um die Debattenqualität als um die Meinungsfreiheit sorgenden Seite kommen Beschwerden über „Zensur" in den Foren der Medien, auch bei Tagesspiegel.de. Wir schreiben „Zensur“ hier bewusst in Anführungsstrichen, weil der Begriff zwar häufig verwendet wird, wir ihn aber in unserem Zusammenhang nicht für angebracht halten. Wir haben es schon geschrieben, wiederholen es hier aber, weil es aus unserer Sicht sehr wichtig ist: Der Tagesspiegel ist keine Instanz, die die Öffentlichkeit kontrolliert. Eine Zensur findet in Deutschland nicht statt, jeder darf seine Meinung frei äußern. Das heißt nicht, dass sich jeder überall und jederzeit und zu allem auf jede beliebige Art äußern kann. Der Tagesspiegel lädt Leser ein, auf seiner Online-Seite und in seinen Social-Media-Auftritten zu diskutieren. Das heißt nicht, dass wir jede Äußerung zulassen.

Was wir nicht zulassen im Tagesspiegel-Forum

Wir haben zum Beispiel eine presserechtliche Verantwortung für das, was auf unserer Website erscheint. Neben dieser rechtlich fixierten Voraussetzung haben wir ein Interesse an einer anregenden und flüssigen Debatte. Wir gehen von diesem Interesse auch bei unseren Lesern aus. Deshalb moderieren wir deren Beiträge. Moderieren bedeutet nicht zensieren. Das Internet ist zum Glück freier und interaktiver als eine Leserbriefseite oder eine Fernsehtalkshow. Doch auch ein Online-Forum braucht Diskursstruktur, wenn die Debatte nicht ins Chaos oder Nirwana abgleiten soll. Deshalb halten wir es für richtig, neben Beleidigungen und persönlichen Attacken auch Herabwürdigungen von Minderheiten, Pauschalurteile und Verschwörungstheorien nicht zuzulassen. Genau wie Kommentare, die nichts mit dem Diskussionsthema zu tun haben, also „off topic“ sind, oder Wiederholungen von bereits Diskutiertem und Trollkommentare, die eine Debatte stören, statt sich argumentativ mit einem Thema auseinanderzusetzen.

Das Forum des Tagesspiegels ist meiner Meinung das beste einer Tages- oder Wochenzeitung. Besser als der Spiegel, und auch die Zeit. Zum Teil dank der Moderation.

schreibt NutzerIn the_master

Um die Debatte von vorneherein zu strukturieren, werden die Leserkommentare bei Tagesspiegel.de grundsätzlich von einem Moderatorenteam vor Veröffentlichung gesichtet – anders als auf Websites anderer Zeitungen, die alle Kommentare zunächst zulassen und Unzulässiges erst im Nachhinein löschen. Auch der Tagesspiegel begann einst mit einem offenen Forum. Daran erinnert sich Markus Horeld, der ab 2001 beim Tagesspiegel die Community mit ins Leben rief, noch sehr plastisch. "Wir haben das dann wieder gestoppt", erzählt Horeld, heute stellvertretender Chefredakteur bei Zeit Online. Im Gründungseifer war man euphorisch-naiv ans interaktive Thema gegangen und musste sich bald dem Druck von Trollen, Spammern und Extremisten beugen. Ein völlig offenes, unmoderiertes Forum war kein Zukunftsmodell. Eine Zeitlang moderierten dann die Online-Redakteure die Leserkommentare unter ihren Beiträgen selbst, bevor der Tagesspiegel Mitte der Nullerjahre ein Community-Team an den Start schickte, zunächst noch in Kooperation mit dem Jugendportal Zoomer.de und dann Zeit Online, schließlich in Eigenregie.

Eine Art Premium-User ist denkbar

Als Orientierung für unsere Leserkommentatoren haben wir Richtlinien erstellt. So gelangen offensichtliche Beleidigungen, verfassungsfeindliche wie gewaltverherrlichende Beiträge nicht in die Debatten. Um an den Debatten teilnehmen zu können, muss man sich auf Tagesspiegel.de mit einer gültigen E-Mailadresse registrieren. Wir denken derzeit über weitere Möglichkeiten der Registrierung nach. Das so genannte PostIdent-Verfahren zum Beispiel wäre eine sichere Lösung, um die Identität von Debattenteilnehmern zu verifizieren. Nutzer, die sich auf eine derartige Registrierung einlassen, vertrauen auf diesem Weg der Redaktion ihren Klarnamen an. Die Deutsche Post übernimmt dann die Identifikation direkt in der Filiale oder auch elektronisch und leitet diese Informationen an den Auftraggeber weiter. Das wäre ein etwas umständlich wirkender, aber Vertrauen weckender Registrierungsprozess, dessen Teilnehmer auch belohnt werden sollten. Kommentare von Nutzern, die der Redaktion ihre Identität preisgeben, könnten dann zum Beispiel doch ohne Moderation veröffentlicht werden. Eine Art Premium-User ist denkbar.

Trotz aller Debatten um die vermeintlich oder tatsächlich schädliche Anonymität im Netz erlauben wir unseren Nutzern weiterhin, Pseudonyme für ihre Kommentare zu verwenden. Pseudonyme sind insbesondere bei politischen Debatten oft hilfreich. Gerade moderate, debattenorientierte Stammkommentatoren werden dadurch geschützt und entgehen Einschüchterungsversuchen in rechts- oder linksradikalen Netzwerken. Und Social Media wie Facebook zeigen, dass viele so genannte Klarnamen eher Fantasiegebilde und keineswegs die tatsächlichen Namen der User sind. Zudem wird teils auch mit Klarnamen gepöbelt.

Da es leider auch bei uns im Forum immer mal wieder zu Ausreißern kommt, halten wir unsere Leserkommentatoren wiederholt dazu an, respektvoll miteinander zu kommunizieren und dazu beizutragen, die digitale Diskussionskultur zu verbessern.

Und was meinen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser? Was können wir tun, um die digitale Debattenkultur weiter zu verbessern? Kommentieren und diskutieren Sie mit! Nutzen Sie dazu bitte die einfach zu bedienende Kommentarfunktion etwas weiter unten auf dieser Seite.

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