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Gut und Böse. Robert Engel (Martin Armknecht, rechts) kommt seinem Ziel, Momo (Moritz Zielke) ins Gefängnis zu bringen, immer näher. Szene aus der "Lindestraße" am Sonntag in der ARD um 18 Uhr 50.

© WDR/Steven Mahner

1636 Folgen Lindenstraße: "Lindenstraße" abschalten? Ein Pro & Contra

Die "Lindenstraße" geht erstmals in 32 Jahren die Sommerpause. Soll die ARD-Weekly danach überhaupt wiederkommen? Ein Pro und ein Contra.

Pro:

Manchmal hat man das Gefühl, „Lindenstraße“-Gucken sei für viele Menschen so befremdlich wie heimlich die Sex-Dating-App „Tinder“ nutzen, Junk Food essen oder „Bild“-Zeitung lesen. Das kann nicht sein. Das tut man nicht. Jedenfalls nicht, ohne sich Fragen zu gutem Geschmack oder Anspruchshaltung anhören zu müssen. Mal abgesehen davon, dass ich nicht jeden Tag „Breaking Bad“ oder „House of Cards“ gucken kann, und ein guter Burger schon manch’ schlechten Tag gerettet hat – was spricht eigentlich dagegen, dieses kleine ARD-Biotop, gedreht draußen in Köln-Bocklemünd, noch 30 Jahre weiterleben zu lassen? Tut doch keinem weh.

Meinetwegen kann man das Kleinbürgermief nennen. Meinetwegen kann man aber auch mal festhalten, dass sich Erfinder und Ko-Produzent Hans W. Geißendörfer im immer verwechselbarer gewordenen Programm des Ersten zwischen Helene Fischer, Bozen-Krimi und Quizshow seit über 30 Jahren den A…. aufreißt, um Missständen der Republik auf unterhaltsame Weise den Spiegel vorzuhalten. Gut, das mag in den vergangenen Jahren an Esprit und Schlagkraft verloren haben. Es waren schon mal zwei Millionen Zuschauer mehr. Tabus werden ständig verletzt, im Fernsehen, im Netz. Den Strom im wirklichen Leben stellt auch keiner mehr aus, nur weil Klausi Beimer aus der „Lindenstraße“ es will. Trotzdem halte ich es weiter für wichtiges und richtiges öffentlich-rechtliches Fernsehen, wenn sich eine syrische Flüchtlingsfamilie, das Thema Hatespeech oder ein Transgender in der Lindenstraße 3 verirren und von den vertrauten dramatis personae dort absorbiert werden.

Klar, wahrscheinlich hat mein  Faible für die „Lindenstraße“ was mit Nostalgie, Kindheitserinnerungen und der Vorliebe für Rituale zu tun. 32 Jahre, jeden Sonntag, 18 Uhr 50 – das bleibt. Da wird auch die erste Sommerpause in der über 30-jährigen Geschichte der Fernsehserie überstanden, ab der nächsten Woche. Soll der WDR seine kleinen Sparrunden machen, obwohl das jetzt schon ans Eingemachte geht. Am 20. August dreht sich die Welt weiter, mit einer Knallerfolge. Darauf einen Burger. Markus Ehrenberg

Contra:

Auf der einen Seite stehen und sehen die „Lindi-Suchtis“. Das sind Zuschauer, die ein Fernsehen ohne „Lindenstraße“ zwar für möglich, auf jeden Fall aber für sinnlos halten. Ich stehe auf der anderen Seite. Für mich ist ein Fernsehen ohne „Lindenstraße“ erstens möglich und zweitens sinnvoll. Seit 1985 läuft die vom Westdeutschen Rundfunk verantwortete Weekly. Das sind 32 Jahre und 1636 Folgen. Verlorene Jahre für das Erste Deutsche Fernsehen wäre jetzt ein zu großes Wort. Ein zu kleines wäre: Noch mal 32 Jahre und 1636 Folgen. Der Schrecken muss dringend ein Ende haben.

Die Seifenoper ist anstrengungsloses Fernsehen. Die Produktion von Hans W. Geißendörfer bietet schon in der Kulisse eine Atmosphäre, die jeden Baumarkt erröten ließe. Nichts gegen Einfachheit und bundesdeutschen Durchschnitt, aber warum muss das Medium in seiner Fiktion anbieten, was schon in der Realität Augengrippe auslöst?

Ach so, der viel beschworenen Realitätsnähe wegen? Große Lüge „Lindenstraße“. Die Dramaturgie und die ihr innewohnende Dramatik sind ferner als fern von jeder „Lindenstraße“ in Deutschland. Der Realismus ist vorgeblich, behauptet, eine TV-Erfindung eben. Was in den 30 Minuten passiert, muss passieren, weil sonst Zuschauer und Mutter Beimer wegnicken. Das ist die Triebkraft, die Notwendigkeit der Handlung, die von Aktion zu Aktion hecheln muss. Die Autoren der „Lindenstraße“ bewegen sich auf dem Fleißkärtchen-Niveau.

Die Macher wollen sich und andere glauben machen, diese Serie sei ein Kommentar zur Zeit. Gesellschaftliche Bezüge – Coming-out und Umweltbewegung, Vegetarismus und Rechtsextremismus, Leistungsdruck und Arbeitslosigkeit – wurden ins Geschehen injiziert und durch verschiedene Rollen personalisiert. Ich halte das für Simulation. Probleme und Positionen, Fragen und Figuren werden herangezoomt, um ebenso schnell wieder in den Hintergrund verfrachtet zu werden.
Die „Lindenstraße“ kann Kitsch, und wie!, gleichzeitig bleibt sie darauf kleben wie eine Fliege auf der Leimrolle in Beimers Bleibe. Also? Also! Joachim Huber

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