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Matthias Müller hat fast sein ganzes Berufsleben bei Volkswagen verbracht. Ist er der Richtige, um die Dieselaffäre aufzuklären?

© picture alliance / Marijan Murat

Matthias Müller: Der auffallend unsichtbare VW-Chef

Die Diesel-Affäre ist nicht ausgestanden, da kommt der nächste Skandal: Abgastests an Affen und Menschen. An VW-Chef Matthias Müller prallt die Empörung ab – für den Konzern könnte das zum Problem werden.

Das muss man können: auffallen und zugleich unsichtbar sein. Matthias Müller schafft es. Am Dienstagabend dieser Woche steht der VW-Chef beim Neujahrsempfang des Autoverbandes VDA in der „Classic Remise Berlin“, einer alten Straßenbahnhalle voller schöner, alter Autos. Sein Bierglas ist halb voll, die rechte Hand steckt in der Anzughose, Müller plaudert, Müller demonstriert Gelassenheit. Seine Pose ist den Journalisten geschuldet, die ihn umringen.

Viele hätten darauf gewettet, dass der Vorstandsvorsitzende des VW-Konzerns an diesem Abend fehlen würde. Nach allem, was in den zurückliegenden Tagen passiert ist. Bestenfalls einen Kurzauftritt zu Ehren von Matthias Wissmann, dem VDA-Präsidenten, hätte man für möglich gehalten. Wissmann geht im März in den Ruhestand. Doch Müller ist da, mischt sich unter die Vorstandskollegen anderer Konzerne, lächelt mit Wissmanns Nachfolger Bernhard Mattes in die Kameras. Dass er die schlimmsten Stunden seiner Karriere hinter sich hat, bleibt unsichtbar. Irgendwann an diesem Abend ist Matthias Müller verschwunden.

Er entschuldigt sich. Gehen muss ein anderer

Zu diesem Zeitpunkt reißen die Autoleute am Buffet Affen-Witze. Gut 48 Stunden ist es her, dass die Nachricht von Abgastests an Primaten sie daran erinnert hat, dass die Diesel-Krise noch da ist. Schmutziger denn je. Die Tierversuche und ähnliche Tests mit menschlichen Probanden im Auftrag von Volkswagen, Daimler und BMW empören die Öffentlichkeit, die Regierung, die Branche, das ganze Land. Sie sind auch an den Stehtischen des Neujahrsempfangs das wichtigste Thema. Die Lage ist wirklich ernst.

Gerade hatte es so ausgesehen, als könne man langsam wieder über die guten Geschäfte reden, statt immer nur über Diesel, Diesel, Diesel. Volkswagen ist 2017 wieder der größte Autohersteller der Welt gewesen. Eine Nachricht, die im Affentheater untergeht. Statt Glückwünsche nimmt Matthias Müller Blicke entgegen. Niemand lässt es sich an diesem Abend nehmen, im Gesicht des VW-Chefs nach den Spuren zu suchen. Doch Müller gibt sie nicht preis.

Die Zweifel, ob er, der fast sein ganzes Leben im Volkswagen-Konzern verbracht hat, der Richtige ist, um die Dieselaffäre aufzuklären, werden wieder lauter. Im Affen-Skandal hat sich Müller in den Hintergrund gespielt, obwohl die Tierversuche während seiner Amtszeit passiert sind und der Verein, der sie veranlasste, erst im vergangenen Jahr geschlossen wurde. „Unethisch und abstoßend“ seien diese Tests gewesen, hat Müller gesagt und sich wortreich entschuldigt. In die Wüste geschickt wird ein anderer: Thomas Steg, Generalbevollmächtigter und „Außenminister“ des Autokonzerns. Ein Bauernopfer, sagen viele. Es hätte auch den Chef selbst erwischen können.

Wer glaubt ihm jetzt überhaupt noch?

Auf dessen Agenda steht nun plötzlich wieder die alte Frage: Wie glaubwürdig ist der Kurs, den der Vorstand eingeschlagen hat? Mehr schlecht als recht hatte es Müller geschafft, der Öffentlichkeit seine „Strategie 2025“ zu vermitteln. Volkswagen investiert Milliarden in die Elektromobilität, wird Mobilitätsanbieter jenseits des Autobaus, digital und dezentral. Selbst ein Ende des steuerlichen Dieselprivilegs kann sich der VW-Chef vorstellen. Für andere Autobosse ein Ding der Unmöglichkeit. Doch: Wer glaubt Müller nach den Vorkommnissen im Tierversuchslabor überhaupt noch?

Die öffentliche Entrüstung, die neuen Vorwürfe, die Zweifel an seiner Person – all das nagt an ihm hinter der coolen Fassade. Der 64-Jährige, der früher viel Sport getrieben hat, gerne Golf und Tennis spielt, wirkt immer häufiger abgekämpft. Früher habe er sich regelmäßig mit Freunden, darunter Schauspieler und Tatort-Kommissar Richy Müller, in einer Hütte im Zillertal getroffen, heißt es. Teilnehmer der letzten Motorsport-Gala „Night of Champions“ in Weissach berichten, der sonst so joviale Party-Gast Müller habe verschlossen und düster gewirkt. Kurz zuvor war die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin, der Tennis-Spielerin Barbara Rittner, nach zwei Jahren in die Brüche gegangen.

Manchmal wirkt er abwesend. Seine Gegner nennen das Arroganz

Harte Zeiten für Matthias Müller – seit mindestens 29 Monaten. Solange schon trägt er die Diesel-Affäre, die Ende 2015 bekannt wurde, mit sich herum. Die Frage, ob er sagen könne, wann er zum ersten Mal vom Diesel-Betrug erfahren habe, beantwortet er seither mit „Ja“. Mehr sagt er nicht, darf es angeblich nicht wegen der laufenden Ermittlungen in den USA. Den Bericht der US-Kanzlei Jones Day, dessen Veröffentlichung Müller versprochen hatte, hält er unter Verschluss – angeblich auch auf Anweisung der US-Behörden. Christine Hohmann-Dennhardt, für wenige Monate Vorstandsfrau für Recht und Gesetz, verließ das Unternehmen mit Millionenbezügen, aber ohne Aufklärungserfolg.

Die Reaktion auf den Affenskandal zeigt: die Geduld mit Volkswagen ist am Ende. Da spielt es kaum eine Rolle, dass auch Daimler und BMW eine Mitverantwortung tragen. Schuldig, so hätte es der Boulevard gerne, ist Matthias Müller.

Wann immer Müller in letzter Zeit in der Öffentlichkeit aufgetreten ist – beim Berliner Diesel-Gipfel, auf der Autoausstellung IAA, bei Empfängen –, lag diese seltsame Mischung aus Erschöpfung und Gelassenheit in seinem Gesicht. Manchmal wirkt er wie abwesend, seine tiefblauen Augen starren dann ins Leere. Seine Gegner nennen es Arroganz.

Volkswagen ist so erfolgreich wie nie in seiner Geschichte

Schon damals, am Tag, als der heute 64-Jährige das Amt des Vorstandsvorsitzenden des Zwölf-Marken-Konzerns antrat, im September 2015, ahnte er wohl, was auf ihn zukommen würde. Zerknirscht präsentierte er sich in Wolfsburg als starker Mann. Von Aufbruchsstimmung und Neubeginn war keine Rede, es ging um Vergangenheitsbewältigung. Doch die Vergangenheit will nicht vergehen. Von einem Tag auf den anderen war Müller an die Spitze des Unternehmens gerückt, weil ein Nachfolger für den zurückgetretenen Martin Winterkorn gebraucht wurde. „Alles, was ich beruflich erreicht habe, verdanke ich dem VW-Konzern“, sagte er einmal. Ob er auch die schlaflosen Nächte meinte?

Wie so oft in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren fallen im Leben von Matthias Müller zwei Welten auseinander: die eine, in welcher der größte deutsche Industriekonzern mit zwölf Automarken wie VW, Audi oder Porsche immer erfolgreicher und größer wird, und die andere, in der er immer tiefer in den Diesel-Sumpf fährt, seinen in Jahrzehnten aufgebauten Ruf ruiniert. Mehr als zehn Millionen Autos hat Volkswagen im vergangenen Jahr weltweit verkauft, so viele wie kein anderer Autohersteller, mehr als 600 000 Beschäftigte in 120 Werken weltweit dürfen sich als Teil einer Erfolgsgeschichte fühlen. Volkswagen geht es so gut wie noch nie in seiner Geschichte – der Aktienkurs steht höher als vor Ausbruch der Krise.

Daran hat Matthias Müller einen großen Anteil. Seit 47 Jahren arbeitet er für das Unternehmen. Von der Ausbildung zum Werkzeugmacher bei Audi Anfang der 70er Jahre bis an die Konzernspitze: Eine Bilderbuchkarriere. Dabei ist er kein Ingenieur wie die meisten Kollegen, keiner mit „Benzin im Blut“, wie es die Branche so schätzt. An der Fachhochschule München hat er 1978 sein Diplom in Informatik gemacht. „Der Vorstandsvorsitzende besteht nicht nur aus Technikfragen“, hat Müller erklärt und damit die Legende seines Vorgängers Winterkorn abgeräumt, der angeblich jede Schraube bei Volkswagen kannte. „Ich bin weniger Techniker, mir fällt es leicht, an dieser Stelle loszulassen“, sagt Müller. Ein Satz, der auch klarstellen will: Für die Manipulationen an Diesel-Motoren waren andere verantwortlich. Ich nicht.

Er ist kein Techniker. Ist das ein Freispruch?

Autos aber liebt er. Das kommt vom Vater. Siegfried Müller arbeitet in den 50er Jahren im Rennsport, zuerst bei der zur Auto-Union gehörenden Marke DKW, die in Audi aufgeht, später als technischer Leiter der Sachsenring-Rennstrecke. Als Matthias drei Jahre alt ist, siedelt die Familie nach Westdeutschland über. Müller, im Landkreis Zwickau in Sachsen geboren, wächst in Bayern auf. Man hört es. Der Vater weckt in ihm die Leidenschaft für schnelle Autos. Privat fährt Müller heute Porsche 911. Die Marke, die auch seine Karriere in Fahrt gebracht hat.

Nach fast 30 Jahren bei Audi und drei Jahren als Generalbevollmächtigter von VW wird Müller 2010 Chef des Zuffenhausener Sportwagenherstellers. Ein Drama ist dem Karrieresprung vorausgegangen: Porsche-Chef Wendelin Wiedeking ist mitten in der Finanzkrise mit dem Versuch gescheitert, den viel größeren VW-Konzern zu übernehmen. Der Eigentümer-Clan der Porsches und Piechs hat sich vergeblich in die Schlacht geworfen. Porsche wird schließlich in den Volkswagen-Konzern integriert, Müller Chef. Und ähnlich wie später bei Martin Winterkorn tritt er die Nachfolge eines dominanten Vorgängers, Wendelin Wiedeking, an.

Oben, wo niemand sein will

Matthias Müller hat fast sein ganzes Berufsleben bei Volkswagen verbracht. Ist er der Richtige, um die Dieselaffäre aufzuklären?
Matthias Müller hat fast sein ganzes Berufsleben bei Volkswagen verbracht. Ist er der Richtige, um die Dieselaffäre aufzuklären?

© picture alliance / Marijan Murat

Das härtet ab und macht ihn unabhängiger. Bei Volkswagen kann man das gebrauchen, wenn man etwas verändern will. Robust und zupackend, das sind die Alphatiere bei VW alle, auch Müller. „Ich hatte keinen Tag Angst“, sagt er einmal. Aber er ist kein Mann der Hierarchien, keiner, der zur Machtdemonstration einen großen Schreibtisch oder einen Privatjet braucht. Im VW-Reich tut sich so einer nicht leicht. Kein anderes Unternehmen wird von so vielen Mächten regiert, mit denen man sich anlegen kann, von so viel Geschichte geprägt: von der Nazi-Vergangenheit, den Intrigen der Erben-Familien, von der starken Gewerkschaft, dem Land Niedersachsen als Großaktionär.

Anfang 2015 wird Matthias Müller Mitglied im Konzernvorstand. Da ist Winterkorn schon angeschlagen, weil VW-Patriarch Ferdinand Piech öffentlich „auf Distanz“ zu ihm gegangen ist. Müller, den Piech früh gefördert hat, gilt fortan als Kronprinz. Als im Herbst 2015 die Abgas-Manipulation publik wird und die Stelle an der Spitze frei wird, kommt Müller oben an.

Aber wer will zu diesem Zeitpunkt schon ganz oben sein bei Volkswagen?

„Einfach machen.“ Diesen Satz hören Mitarbeiter des Volkswagen-Chefs häufiger. Er beschreibt auch Müllers Motivation, den Porsche-Chef ohne Fehl und Tadel gegen den verprügelten Protagonisten des Diesel-Skandals auszutauschen. Er ist kein Visionär. „Kein Stratege“, sagt Müller über sich. „Ich habe nur Ideen in konkrete Pläne umgewandelt.“ Als „relativ einfach gestrickt“ charakterisiert sich der VW-Chef, „ich brauche dieses Brimborium nicht“.

Ein falscher Satz wurde ihm zum Verhängnis

Wegbegleiter relativieren diese Selbstbeschreibung. Müller sei ein starker Analytiker, kenne die Fakten, schätze die Kritik von Beratern, diskutiere gern – und sei bereit, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Der frühere Aufsichtsratschef und IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber lobte Müllers „unternehmerische und soziale Kompetenz“, der Betriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh spricht von „Entschlossenheit und Durchsetzungskraft“. Unter normalen Umständen wären dies Klischeebeschreibungen für den Vorstandsvorsitzenden eines Dax-Konzerns. Doch die Zeiten sind nicht normal.

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt bekommt Müller zu spüren, wie empfindlich die Öffentlichkeit auf unüberlegte Sätze reagiert. Am Rande der Automesse in Detroit sagt er einem Radioreporter, der nach den Diesel-Tricks gefragt hatte, in mäßigem Englisch ins Mikrofon: „Wir haben nicht gelogen.“ Der Satz versetzt die Kommunikationsabteilung in Aufruhr und wird weltweit kommentiert. Müller, diese Botschaft bleibt hängen, hat nichts verstanden.

„Man kann viel in Reden packen, aber wenn die Leute dann merken, dass man es nicht umsetzt, hat man seine Glaubwürdigkeit verspielt“, sagt der VW-Chef 2016 in einem Interview. „Vorleben“ sei das Entscheidende. Und dann wieder: „Man muss loslassen können.“

Er teilt seinen Fahrstuhl. Es ist ein Anfang

Zum Amtsantritt hatte Müller eine neue Unternehmenskultur versprochen. Mit dem Loslassen hat er im Kleinen angefangen. Im Wolfsburger VW-Hochhaus fuhr der Fahrstuhl für den Vorstand früher ohne Stopp bis ganz nach oben. Jetzt teilt Müller ihn mit den Mitarbeitern, die auf jeder Etage zusteigen können. Er wird häufiger in der Kantine gesehen, im Intranet chattet er mit Angestellten, seinen Dienstwagen fährt er manchmal selbst.

Auch der riesige Schreibtisch samt Ledersessel von Martin Winterkorn ist verschwunden. Alle vier Wochen sitzt der Vorstand am Abend vor einer ganztägigen Klausur bei einem Essen zusammen. „Da reden wir auch über Privates“, berichtet der Chef. Kleinigkeiten, die eine große Rolle spielen können, wenn sich Kultur und Führungsstil in einem „obrigkeitshörigen Unternehmen“, wie Müller es formulierte, ändern sollen.

Die Hoffnung, er könne sich nach dem 25 Milliarden Euro teuren Diesel-Drama bald nur noch auf das Tagesgeschäft konzentrieren, ist enttäuscht worden. Müller bleibt im Krisenmodus. Sein Vertrag läuft bis 2020. „Dann sehen wir weiter“, sagte er im Oktober dem „Handelsblatt“. Hinschmeißen? Keine Option für Matthias Müller. In die Politik gehen? „Dafür bin ich zu alt“, sagt er.

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