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Luther predigt vor der Stadtkirche. Szene aus dem Asisi-Panorama "Luther 1517" (www.asisi.de) in Wittenberg.

©  Rolf Brockschmidt

Luthers Lehre heute: Gott und die Gerechtigkeit

Was Christen und Kirchen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und den Frieden tun können.

Als Christoph Kolumbus im Jahr 1492 versuchte, Ostasien durch die Überquerung des Atlantischen Ozeans zu erreichen, stieß er in der Karibik auf einen unerwarteten Kontinent. Aber er war nicht der erste Europäer, der dort landete. Vielmehr hatten Grönländer schon ein halbes Jahrtausend vorher das amerikanische Festland zu Gesicht bekommen. Dennoch verbindet man die Entdeckung Amerikas fest mit der Reise des Kolumbus.

Als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen zu Ablass und Buße an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg öffentlich zur Kenntnis brachte, war das eine mutige Tat. Aber Luther war nicht der erste, der die kirchlichen Zustände des späten Mittelalters kritisierte. Andere hatten schon vor ihm die Gestalt kirchlicher Herrschaft, die Ausnutzung der Angst vor den Sündenstrafen für einträgliche Ablassgeschäfte und den Gegensatz zwischen dem geistlichen und den weltlichen Ständen kritisiert. Dennoch verbindet man das reformatorische Geschehen fest mit der Person Martin Luthers.

Noch am 31. Oktober 1517 schickte Luther seine Thesen an Albrecht von Brandenburg, den Bruder des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg, der im Zentrum des Streits um den Ablass stand. Da das Amt des brandenburgischen Markgrafen schon besetzt war, hatte er sich zu einer kirchlichen Karriere entschlossen. In kurzer Zeit hatte er eine Reihe kirchlicher und politischer Leitungsämter übernommen. Die nach kirchlichem Recht unerlaubte Häufung geistlicher Ämter musste er der Kurie bezahlen. Der Verkauf von Ablassbriefen war für ihn deshalb von großer Bedeutung. Verständlicherweise ließ er Luthers Thesen unbeantwortet und leitete sie wegen des Verdachts der Ketzerei unmittelbar nach Rom weiter. Damit wurden bereits die Weichen dafür gestellt, dass Luthers Anstoß nicht zur inneren Reform der einen westlichen Kirche genutzt wurde, sondern in eine Kirchenspaltung mündete – die zweite große Kirchenspaltung des europäischen Christentums nach dem Schisma zwischen Ost und West ein halbes Jahrtausend zuvor.

Der Beginn der Reformation lässt sich auch anders erzählen

Freilich sollte sich erweisen, dass damit nicht nur ein Verlust an Einheit bis hin zu konfessionellen Bürgerkriegen, sondern auch ein Pluralisierungsschub verbunden war, der sich für die kulturelle, gesellschaftliche und politische Präsenz des christlichen Glaubens als förderlich erwies. Auf die Dauer entwickelte sich dadurch ein positives Verhältnis zu religiöser Pluralität; die Freiheit von Glauben und Religion wurde bejaht. Das kam der gesellschaftlichen Freiheit insgesamt zugute.

Der Beginn der Reformation lässt sich freilich auch anders erzählen. Diese andere Erzählung beginnt nicht mit der Publikation der 95 Thesen, sondern mit einer Entdeckung, die Martin Luther beim Studium des Römerbriefs des Apostels Paulus förmlich überfiel. Es ging um den Satz: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“. Es ging um die Gerechtigkeit vor Gott, die sich allein der Gnade Gottes verdankt. In der Konzentration auf Gottes befreiende Gnade in Christus sah Luther die Mitte des Römerbriefs und der ganzen Heiligen Schrift. Nach langem Ringen gewann er die Einsicht, dass der Mensch nicht durch seine eigenen Werke, sondern durch Gottes Gnade in Jesus Christus gerecht wird.

Dass der biblische Text für jeden solche Erleuchtungen bereit hält, war Luthers Überzeugung. Deshalb lag ihm das Dolmetschen der Bibel so sehr am Herzen; beinahe 25 Jahre lang widmete er sich wieder und wieder dieser Aufgabe. Zur Entwicklung der deutschen Schriftsprache, zur Neuprägung von Wörtern und Begriffen trug er damit genauso bei wie zur Zugänglichkeit der Bibel für jedermann. Deshalb ist die Lutherbibel 2017 tatsächlich ein herausragender Beitrag zum Reformationsjubiläum, ja ein wichtiges Kulturereignis.

Luther wollte keine neue Kirche gründen

Die beiden exemplarisch skizzierten Zugangsweisen zur Reformation zeigen, dass Martin Luther keine neue Kirche gründen wollte. Wie die anderen Reformatoren vor, mit und nach ihm wollte er die existierende Kirche zu ihren Wurzeln und zu ihrem Auftrag zurückführen, nicht eine neue Kirche ins Leben rufen. Der Gang der Ereignisse führte dazu, dass die angestrebte Kirchenreform nur in einem Teil der Kirche durchgeführt wurde – und dies nur mit Hilfe der kurz zuvor durch eine Reichsreform erstarkten Fürsten und städtischen Magistrate; so entstand das Landeskirchentum. Es hat in Deutschland vier der fünf Jahrhunderte bestimmt, die seit den Anfängen der Reformation vergangen sind.

Auch wer in dieser Hinsicht den Abstand der Reformation von unserer Gegenwart betont, sollte die Züge an ihr nicht vergessen, in denen sich Neues ankündigte: in der Verknüpfung der Gnade Gottes mit der Freiheit des Christenmenschen, in der Berufung zur christlichen Verantwortung im weltlichen Handeln, im Vorrang der Gewissensbindung vor dem Obrigkeitsgehorsam, im Beharren auf der Gleichheit aller Menschen unabhängig von Amt und Stand.

Auch die reformatorische Vorstellung von der radikalen Gleichheit aller Getauften gehört in diese Reihe. Es zählt zu den Paradoxien der reformatorischen Theologie, dass sie dem Priesterstand den Abschied gab, aber zugleich alle Getauften zu Priestern erklärte. Diese Paradoxie sollte Aufmerksamkeit wecken. Jeder Getaufte ist zum Glaubenszeugnis in Wort und Tat berufen. Jede ethisch zu verantwortende weltliche Aufgabe gründet ebenso in einer „Berufung“ durch Gott wie die Ordination in ein geistliches Amt.

Der Ansporn zu aktiver Mitverantwortung gilt auch heute noch

Luther predigt vor der Stadtkirche. Szene aus dem Asisi-Panorama "Luther 1517" (www.asisi.de) in Wittenberg.
Luther predigt vor der Stadtkirche. Szene aus dem Asisi-Panorama "Luther 1517" (www.asisi.de) in Wittenberg.

©  Rolf Brockschmidt

Keiner der Reformatoren plante mit solchen Überlegungen den Übergang zu dem, was wir heute als Demokratie bezeichnen. Doch ein Bild vom Menschen bahnte sich an, das den Übergang zu demokratischen Verfassungsformen in Kirche und Staat begünstigen konnte. Dass es dazu kam, war jedoch von vielen weiteren Bedingungen abhängig.

Faktisch haben sich diese Impulse zunächst außerhalb Deutschlands und des Luthertums stärker ausgewirkt als im deutschen Luthertum. Aber auch in Deutschland verbinden sich inzwischen die Impulse der Reformation auf kräftige Weise mit der Überzeugung von der gleichen Würde jedes Menschen und dem Eintreten für die rechtsstaatliche Demokratie. Der Ansporn zu aktiver Mitverantwortung gilt zu Recht als eine der wichtigen Botschaften der Reformation für unsere Gegenwart.

Wir erleben das erste Reformationsjubiläum in der Geschichte der evangelischen Kirchen, das sich mit einem Reformationsgedenken in ökumenischer Gemeinsamkeit verbindet. Im Jahr 1999 haben sich die römisch-katholische Kirche und die lutherischen Kirchen dazu bekannt, dass die Überzeugung von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade die Kirchen nicht mehr voneinander trennt. Im Jahr 2007 wurde für den deutschen Bereich bekräftigt, dass die Kirchen die in ihnen stiftungsgemäß vollzogene Taufe wechselseitig anerkennen. Auch wenn im Blick auf das Sakrament des Altars ein vergleichbarer Schritt wegen gravierender Unterschiede im Amtsverständnis noch nicht vollzogen wurde, sollte man das Erreichte nicht gering schätzen.

Die Kirchen müssen das Gemeinsame stärken und fördern

Wir haben gerade in Deutschland viel Grund dazu, die bleibenden Unterschiede als Ausdrucksformen einer tiefer liegenden Gemeinsamkeit zu betrachten und verständlich zu machen. Mit einer schon im Neuen Testament verwendeten ökumenischen Formel können die Kirchen sich gemeinsam zu dem einen Herrn, dem einen Glauben und der einen Taufe als ökumenischem Grundsakrament bekennen. Wo die Dankbarkeit dafür den ökumenischen Geist prägt, werden auch weitere Schritte möglich.

Die Reformation hat die kulturelle Präsenz des christlichen Glaubens in unserem Land und in vielen Teilen der Welt stark beeinflusst. Die unverwechselbare Stimme dieses Teils der Christenheit wird auch in Zukunft gebraucht. Aber jede Kirche ist gut beraten, die wichtigen Merkmale ihrer jeweiligen Identität so zu verstehen und zu gestalten, dass sie das Gemeinsame stärken und fördern.

Dies ist das erste Reformationsjubiläum, das auch im evangelischen Bereich weltkirchlich geprägt ist. Nicht weil die Rede von der Globalisierung in aller Munde ist, sondern weil die Kirche Jesu Christi sich schon in den Bekenntnissen der frühen Christenheit als „katholisch“, also allumfassend versteht, kann ein Gedenken an den reformatorischen Aufbruch nur umfassend verstanden werden.

Hohe Erwartungen prägen das Reformationsjubiläum

In großer Intensität feiern Kirchen in Lateinamerika, Afrika und Asien „Refo500“, wie es an vielen Orten heißt. Das lenkt die Aufmerksamkeit über das Luthertums hinaus auf die anderen Strömungen reformatorischer Kirchenbildung: Reformierte und Anglikaner sowieso, aber ebenso die täuferischen Kirchen sowie die erstaunlichen und bisweilen auch befremdlichen Entwicklungen in stark wachsenden Strömungen der Weltchristenheit wie die evangelikalen und postevangelikalen, die charismatischen und pflingstlerischen Bewegungen unserer Zeit. Nur wer diese Strömungen einbezieht, kommt im Blick auf die Folgen der Reformation wirklich im 21. Jahrhundert an.

Verglichen mit anderen Teilen des Globus ist Deutschland eine religiös gemäßigte Zone. Den Osten Deutschlands zählen manche sogar zu den am stärksten säkularisierten Weltgegenden. Doch zugleich ist die Erwartung, dass Christen und Kirchen zum Zusammenhalt der Gesellschaft und zum Frieden über unsere Grenzen hinaus beitragen, hoch. Solche Erwartungen prägen auch das Reformationsjubiläum und viele Aktivitäten, die sich mit beeindruckender staatlicher Unterstützung und öffentlicher Resonanz um dieses Ereignis ranken. Die Kirchen bringen ihren eigenen Ton ein: das Vertrauen auf den gnädigen Gott und die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst. Das weist nach vorn.

Der Autor ist evangelischer Theologe und war von 1994 bis 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Von 2003 bis 2009 war er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von ihm ist gerade das Buch „Glaubensfragen. Eine evangelische Orientierung“ (C.H.Beck München 2017. 332 Seiten. 16,95 Euro) erschienen.

Wolfgang Huber

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