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Richter, Künstler, Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen: Florian Havemann.

© Doris Spiekermann-Klaas

Lebenskünstler Florian Havemann wird 70: Unterwegs mit dem abtrünnigen Sohn des bekanntesten DDR-Oppositionellen

Florian Havemann ist eine schillernde Gestalt im emotional zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein jüngster Roman sich liest - alterswilde.

Diese Geschichte erschien im August 2020 erstmals im Tagesspiegel. Aus Anlass des 70. Geburtstages von Florian Havemann am 12. Januar 2022 veröffentlichen wir sie online noch einmal neu.

Womit beginnen?

Damit, wie Florian Havemann in einer abgerockten Bude in Neukölln sitzt, in der sich Bücher und Gedanken stapeln an sein Leben als Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen? 

Jenem Vater, der in seinem Haus hinter der Stadt unter Hausarrest stand, von 250 Leuten rund um die Uhr bewacht, das Haus aber auch nutzte, so erinnert sich der Sohn, um in Opposition zu seiner Ehe zu gehen, mit Festen und Frauen und Wolf Biermann, der dazu Lieder sang. Und in Opposition zu seinem zweiten Sohn, der jetzt hart über einen Vergötterten spricht und dabei sanft an einer Zigarre zieht.

Robert Havemann auf einem Archivbild vom 14. Juni 1979.
Robert Havemann auf einem Archivbild vom 14. Juni 1979.

© picture-alliance / dpa

Oder damit, wie Florian Havemann vor seinem alten Wohnhaus in der Karl-Marx-Allee steht und durch seine früheren Augen sieht, wie hier auf Ost-Berlins Prachtstraße eine Revolte von Jugendlichen losbricht? Auf jener Straße, die sein Onkel auf Kriegstrümmern erbaut hatte. Und Havemann, als in Prag die Revolte zur Revolution wurde und der Osten sein ’68 erlebte, eine Protestfahne aus seinem Kinderzimmerfenster hing und bald im Stasi-Knast saß, freikam und in den Westen floh.

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Seine Vertraute: Deutschlands bekannteste Prostituierte

Oder doch damit, dass Florian Havemann in seiner Galerie hockt an der Friedrichstraße und erzählt, dass seine Bilder, die einsame Menschen in glatten Umgebungen oder rotlichtigen Lokalen zeigen auf langen Flächen, die er Punkt für Punkt malt? Dass jene Bilder 100 000 Euro kosten und er bisher keines verkauft hat.

Oder besser damit, dass Florian Havemann barfuß in seinem Atelier in Prenzlauer Berg hockt und berichtet, wie er als Brandenburger Verfassungsrichter Fälle von Menschen zu entscheiden hatte, denen Unrecht geschehen war und die darüber ausrasteten? Und wie er darüber ein neues Buch schreibt, denn eigentlich ist er Schriftsteller, aber nach der Richtersache wurde er erst Politiker, Berater von Gregor Gysi, ausgerechnet jenem Mann, der mal Anwalt seines Vaters war und um den es immer noch offene Fragen gibt zur Stasi-Geschichte. Auch bezüglich der Verteidigung von Havemann, den die Kommunisten auch dank Gysi doch nicht ins Gefängnis steckten, wie sie einst von den Nazis in Gefängnisse gesteckt worden waren. So wie Robert Havemann.

Zeitzeugen: Florian Havemann (links) auf einem Archivbild von 2008 mit Gregor Gysi und Andrej Bahro.
Zeitzeugen: Florian Havemann (links) auf einem Archivbild von 2008 mit Gregor Gysi und Andrej Bahro.

© Wolfgang Kumm

Oder lieber damit, dass Florian Havemann, der gern lacht, wenn er eine Geschichte erzählt, die zu witzig ist um unwahr zu sein, in einem Restaurant in Mitte sitzt, als seine „Vertraute“ auftaucht, wie sie sein Verlag angekündigt hat, ungleich jünger und weniger bekleidet als er? Jene Frau, die von seinem neuen Roman „Speedy“ schwärmt, in dem es um eine Frau geht, die ihren Mann vorführt, indem sie andere verführt, was ihn ins Gefängnis bringt, und ach ja, die Frau, die neben Florian Havemann sitzt und tatsächlich nicht unvertraut mit ihm umgeht, ist Deutschlands bekannteste Prostituierte. Wie sie sich selbst vorstellt mit einem leichten, ja auch reizenden Lachen; und natürlich ist sie die Tochter eines Prominenten aus einem Land, das untergegangen ist, aber dessen Menschen und Verwicklungen nicht.

Soll das alles ein Leben sein, das zusammengehört, zusammen erzählt gehört? Von einem Mann, der unscheinbar durch Berlin schlappt in Sandalen und Schlabberhose, mit weißem Hut auf grau wehendem Haar? Einem, der nur sich gehört, seinen künstlerischen und lebenskünstlerischen Einfällen: Florian Havemann, ein 68er, der schon 68 ist, genannt Flori. Er ist eine der schillernden Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Womit also beginnen?

Mit 16 hat man noch Träume, als ‘68er

Florian Havemann in seiner Galerie in Berlin-Mitte.
Florian Havemann in seiner Galerie in Berlin-Mitte.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Mit dem Moment, als sein Leben von vorne beginnt. Als er, mit Freundin an der Hand, zum letzten Mal auf dem Grundstück in Grünheide bei Berlin ist und sich sein Vater nicht mehr nach ihm umdrehen mag. „Ich bin aus der DDR abgehauen, und aus ihrer Opposition“, sagt Havemann. Und aus seiner Familie. Einem sechsköpfigen, locker verbundenen Verband, der es sich bei allem Widerstand gemütlich gemacht hatte: helle Wohnung mit Blick auf den entstehenden Fernsehturm, den Havemanns Onkel Hermann Henselmann erbauen ließ, Haus am See, zwei Autos, zwei Boote, eine Hausangestellte, die kochte. Der rote Adel, geboren im Widerstand gegen die Nazis, residierte, resignierte, krittelte, legte sich an und auch wieder nicht, feierte, nicht nur mit Wein und Gesang. „Ich hab mal unsere Haushälterin besucht“, erzählt der verlorene Junge. „Sie lebte in Lichtenberg in einem runtergekommenen Hinterhaus, Klo auf halber Treppe. Da merkte ich: Irgendwas stimmt mit unserem Leben nicht.“

Manchmal sagt er: mein Vater. Manchmal: Der. 

Florian Havemann haut mit dem Feuerzeug auf den Holztisch in seiner Wohnung, krach, pafft Zigarrenrauch, krach, in manch verrümpelte Ecke, die auf einen Einfall wartet. Und ihm fällt was ein, was er witzig erzählen kann, während draußen Neuköllner Leben vorbeirauscht und drinnen Vergangenheit: „Für mich war das eine Partyopposition. Mein Vater hielt die DDR fürs bessere Deutschland. Darum kam von ihm nichts, kein Programm, keine Idee.“ Krach. Manchmal sagt er: mein Vater. Manchmal sagt er: Robert Havemann. Manchmal sagt er: Der.

Es ist, als sei Der ständig noch hier.

Nach Robert Havemann sind Archive und Schulen benannt, der Chemiker war schon Widerständler im Nationalsozialismus, zum Tod verurteilt und überlebend, „kriegswichtig“ für die Giftgasforschung. Eine Ikone der DDR-Oppositionellen, die sich ’89 auf ihn beriefen. Wenn man mit ihnen über Florian Havemann reden will, dann rollen sie die Augen: Ach, der.

Florian Havemann wartet, dass er rübergehen kann. Er ist zum Strausberger Platz gefahren, dem mit Springbrunnen geschmückten Rondell sozialistischer Pittoreske. „Da drüben lag meine Schule hinter Schuttbergen.“ Da drüben, wo sein Finger hinzeigt, lernte er täglich Stalin zu lieben. Bis zu jenem Morgen, als alles anders war, „ich sah es erst auf den zweiten Blick: die Straßenschilder“ – Karl-Marx- Allee. „Und meine Schulkameraden sagten, dass sie nachts nicht schlafen konnten, weil das Stalin-Denkmal abgerissen wurde.“

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Hier war der Flori immer die Stufen entlangbalanciert, hatte sich über den Mut zum Mauerbau gefreut – endlich ging der Sozialismus los. Doch es ging nach hinten los: Die Genossen stellten ihre braunen Stalin-Bände vor die Haustüren, die die Partei abholen ließ. Keiner redete über das Offensichtliche, alle machten ganz offensichtlich weiter. „Das habe ich als verachtenswerte Schwäche erlebt“, sagt Havemann. Die Ampel am Platz springt auf Grün, er kann rüber.

Mit 16 hat man noch Träume, als ’68er. Junge Leute flippten zu Beatmusik aus, pöbelten Volkspolizisten an, schwärmten vom demokratischen Sozialismus. Nachdem Sowjetpanzer den Traum in Prag zermalmt hatten, teilten sich auch in der DDR die Wege. Manche gingen in die Staatspartei, um was zu verändern; auch Florians Bruder. „Ich habe immer gesagt: Die Partei verändert euch, nicht umgekehrt“, ruft Florian Havemann, der zuweilen klingt, als habe er schon oft ganz vieles schon immer gesagt. Andere beantragten die innere Ausreise, stürzten sich ins Private, das im Osten stets politisch war – schon weil der Staat in den Nachtschränken herumschnüffelte. Für Florian war der Prager Frühling eine letzte vergebene Chance. „Meine Flucht war ein Zeichen an die anderen: Lasst es sein.“ Sein Vater hat es genau so genommen; persönlich.

Der Vernehmer sagte: Machen Sie es doch wie alle anderen!

Ein rasantes Leben im Wechsel, das war’s schon vorm Seitenwechsel. Nach seiner Protestaktion bearbeitete ihn im Stasi-Knast Hohenschönhausen ein Vernehmer, es zu machen wie alle da draußen: runterschlucken, weitermachen. Havemann landete auf dem Jugendwerkhof Luckau, ein Arbeitsknast für Leute, die ihr ’68 nicht runterschluckten. Der Name der Familie holte ihn schnell wieder raus. Rein ins nächste Leben, abkommandiert ins Reichsbahnausbesserungswerk, wo neben alten Zügen auch sozialistische Menschen ausgebessert werden sollten.

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Havemann erlebte, dass die Arbeiter, auf die der bessere Sozialismus baute, auf nichts bauten, schon gar nicht auf den Sozialismus. „Einer soff den ganzen Tag. Ich fragte den Chef: Warum arbeitet der nicht? Er antwortete, dass der Typ bei der Armee rausgeflogen war und sich hier gemeldet hatte fürs Brigadetagebuch. Er schrieb rein, wie das Kollektiv ins Theater ging und abends den Sozialismus diskutierte. Alles war ausgedacht. Aber wir wurden ausgezeichnet und in Ruhe gelassen.“ Die Logik der DDR-Wirtschaft: Auf dem Papier war der Plan übererfüllt.

Auf dem Papier, das Florian Havemann beschrieben hat, steht Folgendes: „Ich bin Künstler und also immer im Dienst. Sie wird sich das sicher gemerkt haben, und ich bin mir da so sicher, weil der subalterne Beamte das ja nahezu wortwörtlich wiederholte, als er mir dieses Skizzenbuch hier und einen Packen Bleistifte dazu aushändigte. Aber dieses Argument wird es nicht gewesen sein, was seine positive Entscheidung dann bewirkte, Speedy hat ganz andere Argumente, sehr viel wirksamere, bei Männern wirkende, und auch dieser Beamte ist ein Mann. Sie hat die schönen Augen, und sie kann einem Mann auch schöne Augen machen, wenn’s drauf ankommt, und sie hat diesen Körper, diesen verlockenden, mit dem sie locken kann, und sie weiß sich anzuziehen und auch auszuziehen bei passender Gelegenheit, und ich frage mich, wie weit sie wohl gegangen sein wird, ihrem Mann ein paar schäbige Hafterleichterungen zu verschaffen, die ich abzulehnen nicht die Ehre besitze. Die nicht. Wenn überhaupt eine.“

Eine Frau, die alle verrückt macht, am meisten ihn

In dem Buch skizziert ein Künstler in Nazi-Haft Szenen seiner Ehefrau, die alle verrückt macht, am meisten ihn, Seite um Seite kreist seine Welt um „Speedy“, so heißt sie. Und so heißt Florian Havemanns erster Roman, der am heutigen Freitag im Europa Verlag erscheint. Und Speed hat.

Auf 868 rasanten, manchmal sehr expliziten, zuweilen allzu philosophischen Seiten werden Vielfalt und Einfalt des Lebens aufgeblättert. Es geht um Gott, um Vorurteile (das Wort „Neger“ kommt 98 Mal vor), um Sex und Einsamkeit. „Im Grunde geht es darum, dass eine Frau, die mit anderen Männern schläft, ihren Mann ins Gefängnis bringt und ihn dann auf diese Art wieder rausholt.“ Eigentlich ein Liebesroman, will Havemann wohl sagen. Uneigentlich eine Abhandlung, warum Menschen weitermachen, runterschlucken. Der Held, Maler der Weimarer Republik, ist Opportunist, Täter, Opfer, Oppositioneller, Intellektueller, alles Menschliche in einem. Seine Frau kommt besser zurecht. Es ist ein Buch über zwei Menschen, die nicht rübermachen in ein anderes Leben. Florian Havemann floh 1971 mit seiner Freundin unter Lebensgefahr in einem leeren Tanklastwagen.

Die Schwester brach öffentlich mit ihm

Die Friedrichstraße im Blick: Florian Havemann vor seiner Galerie.
Die Friedrichstraße im Blick: Florian Havemann vor seiner Galerie.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Der Schlüssel klappert leise im Lärm der Friedrichstraße. Hier an der Ecke Oranienburger, die nach dem Mauerfall voller Lebenskunst war, mit Leuten, die in leere Ladengeschäfte einzogen, damit alle das öffentlich Private erkennen, hier wo fast alle Fantasie in den Orkus der Immobilienspekulation gespült worden ist, lädt ein verglaster Raum ein, auf Havemanns Bilder zu schauen. Bilder von Männern mit hochgesteckten Kragen und unausgemalten Gesichtern in Stadtlandschaften, die vom Mond und einer gewissen Traurigkeit beschienen werden. Bilder, die Havemanns Bühnenskizzen ähneln für ein nie aufgeführtes Theaterstück über Albert Speer und ein nie aufgeführtes über Rosa Luxemburg – deutsche Geschichte voller Gespenster. Bilder, die Havemann teuer sind, allen anderen zu teuer.

Einmal hätte es fast geklappt: ein amerikanischer Kunstliebhaber habe ein Bild kaufen wollen. „Ich habe ihn gefragt: Wo wollen Sie es hinhängen? Er meinte: In meinen Flur. Da fragte ich: Machen Sie manchmal Partys zu Hause? Dann kann das Bild kaputt gehen. Und wer sieht es sonst in einer Wohnung? Bilder müssen gesehen werden.“ Er verkaufte nicht. Ein halbes Jahr später meldete sich der Amerikaner, um eine Galerie in Berlins Mitte anzumieten. Damit die Bilder gesehen werden. „Er bezahlt das für zwei Jahre“, sagt Havemann. „Eines ist schon rum.“

Wie viele wollen den Roman lesen? 4000? Oder 100.000?

Heute wird der Roman vorgestellt in der Glasgalerie, es gibt Musik von Straßenkünstlern – „die fördere ich ein bisschen“, sagt Havemann gönnerhaft. Und wie viele wollen „Speedy“ lesen? „Zwischen 4000 und 100.000 ist alles drin“, sagt Havemann und lacht so laut, dass es durch die Galerie schallt. Über sich.

Wie ist das, in einem Leben zu leben, das wie ein Roman anmutet? In einer Kindheit der mondänen Ost-Moderne mit Kinofilmen im Haus des Kindes, später mit dem Onkel auf den Baustellen des Sozialismus, in Grünheide mit Wolf Biermann an der Klampfe abhängend, der später mit der Mutter von Florian Havemanns erster Freundin Nina Hagen zusammen war, in Thomas Brasch aus der Brasch-Familie, den anderen DDR-Buddenbrooks, einen besten Freund zu finden, mit Gregor Gysi eng verbandelt zu sein, weil der den isolierten Vater vor einem Prozess schützen soll und das mit allen Mitteln tut als stiller, doch nicht schweigsamer Diplomat? Und mit einem Vater, dem Angehimmelten, selbst von den Freundinnen der Kinder.

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Florian Havemann versuchte diesem Leben endgültig zu entkommen, als er 2008 eine Familiensaga veröffentlichte voller sagenhafter Geschichten, die viele der darin Erwähnten unsäglich fanden. Ein Dutzend Personen stritten für Streichungen: Angela Merkel, ihr Gatte Joachim Sauer, die Schauspielerin Eva-Maria Hagen. Und Sybille Havemann, die ihrem Bruder öffentlich den „Missbrauch unseres Namens“ vorwarf. Kontaktabbruch.

Das Buch erschien mit Schwärzungen - ein Skandal

Das Buch wurde vom Suhrkamp-Verlag nur noch mit Schwärzungen veröffentlicht. Eine Frau, die mit Klarnamen als „Femme fatale“ beschrieben worden war, erhielt Schadenersatz. Auf der Webseite des Verlags findet sich kein Hinweis mehr auf Havemanns „Havemann“. Und „Speedy“, 2006 fast fertig, wollte keiner mehr drucken. Ein öffentlicher Skandal.

Das Private politisch, das Leben ein Politikum. Wie hält man das aus, vor Publikum? Wolf Biermann befehdet sich mit Havemann seit Jahrzehnten. Biermann, nach seinem legendären Konzert 1976 in Köln aus der DDR ausgebürgert, hat F.H. ein Lied gewidmet: „Enfant perdu“. Auszug: „Wer abhaut aus dem Osten, / der ist auf unsere Kosten / von sich selber abgehaun.“ Havemann wiederum kolportierte später, dass Biermann vor der Ausbürgerung womöglich ein intimes Verhältnis mit M.H. hatte, der Volksbildungsministerin und Ehefrau des ersten Mannes im Staate – ja, dass ihn Margot Honecker vorab vor seiner Ausbürgerung gewarnt habe. Waren alle politischen Tränen vorher privat in trockene Tücher gepackt worden? Wichtige Politiker der Berliner Linken kommentieren das heute beim trockenen Wein trocken: „Das stimmt hundertprozentig.“

Diether Dehm, vielfach vernetzter Polit-Sektierer, sagte 2008 dem Tagesspiegel: „Ich kann bestätigen, dass Biermann in prahlerischer Weise den Eindruck erweckt hat, sehr private Beziehungen zu Margot Honecker unterhalten zu haben, die ihn auch unmittelbar vor der Abreise informiert habe, dass er ausgebürgert werde, wenn er in Köln auftritt.“ Ist große Weltgeschichte am Ende ein Allerwelts-Familiendrama, eine Art missglücktes (oder geglücktes?) Liebesspiel aus einer Welt, die nur in Gedanken und in zerwühlten Bettlaken freizügig war?

Sybille Havemann folgte Biermann in den Westen, auch sie verließ den Vater, aber trägt ihm nichts nach. Ihr Bruder steht jetzt im früheren Haus des Kindes, in dem heute teure Kindermöbel verkauft werden, und spricht über sein Trauma als Kind: Wie er als Dreijähriger im Krankenhaus lag, drei Monate, wie sein Vater ihn nie besucht habe. Wie dann auch sein Bruder krank wurde, ins gleiche Zimmer kam. Vater war sofort da, wollte den einen in eine bessere Klinik bringen. „Mich hat er zurückgelassen.“ Florian Havemann kann das nicht: das zurücklassen. Seine Mutter, Karin von Trotha, eine emanzipierte Raucherin aus dem echten Adel, kam besser klar. Sie bekam drei Kinder in der sozialistischen Aristokratie. „Zum richtigen Adel gibt es einen Unterschied: Unser Adel hat sich nicht um seine Kinder gekümmert. Sie wollten uns ihren Staat nicht überlassen.“ Vielleicht, so mutmaßt Florian Havemann, „weil sie wussten, dass das Ding keine Zukunft hat“, dieses Deutsche Demokratische Ding.

Sie schlägt Schlachten auf Twitter und mag seine Anmut

Geschichte ist gemacht, Zukunft nur gedacht. In der Gegenwart salzt Havemann in einem Restaurant in Mitte einen Teller Tomaten-Mozzarella, es ist einer der letzten heißen Sommertage. Seine Vertraute Salomé Balthus sitzt an seiner Seite, schwärmt für seinen Roman und seine Sicht auf die Welt. Sie hat auch ein Buch geschrieben, es kommt bald raus. Hauptberuflich bezeichnet sie sich als Sexarbeiterin; „ein schreckliches Wort“, wie er findet. Auf Twitter macht sie mobil gegen Ausbeutung im Prostitutionsgewerbe, liefert sich Schlachten für Meinungsfreiheit und Freizügigkeit, bei der „Welt“ ist sie als Kolumnistin rausgeflogen. Beruflich hat sie wohl viel mit den besseren Kreisen zu tun; so wie Havemann einst. Und wie ihr Vater, Reinhard Lakomy, den jedes noch so erwachsene Kind des Ostens kennt, weil er mit seinen Geschichtenliedern jedes Kinderzimmer verzaubert hat: „Ich bin der Traumzauberbaum, / Mich sieht ein Kind nur im Traum.“

Das Kinder-von-berühmten-Eltern-Ding kennt sie nur zu gut. Sie ist mit anderem Namen jetzt in einer anderen Welt. Lieber diskutiert sie mit Havemann, dass Revolutionen nur funktionieren, wenn auch die Angepassten mitmachen – wie gerade in Minsk. „Wenn Millionen merken, dass es zu Ende geht, machen sie dem ein Ende“, sagt Florian. 

Und wo nahm das hier seinen Anfang, diese lockere Liaison? 

In der Volksbühne, im Sternenfoyer. „Nach einer Lesung seines ,Havemann’ sprach ich ihn an. Auch weil ich so wütend war über eine Störerin, die dauernd buhte – seine Nichte, wie ich später erfuhr“, berichtet Balthus. „Ich mochte seinen Text, seine Stimme und seine Anmut.“ Später am Abend nimmt sie Flori mit dem Auto mit. Er hat keins. Er läuft ja lieber rüber.

"Meine Kinder wissen, dass sie nichts erben"

In seinem Atelier in Prenzlauer Berg ist es still. Havemann zieht die Schuhe aus, stößt mit Zehen gegen Pinsel. An den Wänden Bilder, an den Fenstern Zettel, Schablonen. Kinder gucken rein. Aber um mal eine kindische Frage zu stellen: Wie zahlt er hier denn die Miete? Havemann stockt, spricht von Corona-Hilfen, privaten Zuwendungen, überhaupt von Zuwendung. „Irgendwie funktioniert’s.“ Seine Kinder wüssten, dass sie nichts erben. Außer einer der verheddertsten deutschen Familiengeschichten.

Neulich hat ihn ein Mann angerufen, 90, bald am Sterben. Einer der Bewacher des Vaters. Er wolle sich entschuldigen. Florian Havemann sagte ihm, dass er sich nur bei sich selbst entschuldigen könne.

Wen würde Florian Havemann am Ende seines Lebens um Entschuldigung bitten? Und würde er sich verzeihen?

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