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An der Oberbaumbrücke die Kreuzung Mühlenstraße / Stralauer Allee mit der Warschauer Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Lebensgefährlicher Stadtverkehr: In Berlin kracht es alle dreieinhalb Minuten

Siegfried Brockmann erkennt Gefahrenstellen schnell. Mit dem Verkehrsexperten unterwegs zu den schlimmsten Kreuzungen Berlins.

Er verkneift sich das Wort, das jetzt fällig wäre, als er den Fuß aufs Bremspedal seines nagelneuen Audis tritt: „Boah, der ist doch …!“ Siegfried Brockmann meint den nicht mehr ganz jungen Mann mitten auf der Straße, Typ Kreuzberger Original. Im Halbdunkel unter der U-Bahn-Brücke am Oberbaum in Friedrichshain-Kreuzberg war er schlecht zu sehen. Der Fußgänger ist bei Rot soeben dem Experten für Verkehrssicherheit in Deutschland vor den Kühler gelaufen.

Brockmann, 60 Jahre alt, ist gelernter Kfz-Mechaniker und studierter Politologe, er hat in der Berliner Verkehrsverwaltung gearbeitet und die Kommunikation des Brandenburger Verkehrsministeriums verantwortet. Seit 2006 leitet er die Unfallforschung im Gesamtverband der Versicherungswirtschaft. Dort hat er zu fast jeder denkbaren Frage wissenschaftliche Forschung betrieben – vom enormen Nutzen der polizeilichen Fahrradstaffel bis zur Bedeutung von Sicherheitsgurten in Reisebussen.

Diese Tour führt zu den schlimmsten Brennpunkten des an Schreckensorten reichen Berliner Straßenverkehrs. Im Dreieinhalbminutentakt kracht es in Berlin. Sieben Mal pro Durchschnittstag wird jemand so schwer verletzt, dass er stationär im Krankenhaus behandelt werden muss – und in vielen Fällen nie wieder ganz gesund wird.

Brockmann parkt am Bahnhof Warschauer Straße. Die Kreuzung nebenan, über der die U-Bahn so fotogen übers Viadukt zwischen Friedrichshain und Kreuzberg rollt, ist ihm die wichtigste Station.

Diese Kreuzung - eine Katastrophe

Der U-Bahnhof ragt bis an die Stralauer Allee, seine drei Meter dicken Stützpfeiler stehen direkt am Fahrbahnrand. Was Verkehrsplaner auf die Idee brachte, den Radweg – der hier auch touristische Routen wie Mauer- und Spreeradweg bündelt – zwischen den Säulen auf den Gehweg zu verschwenken, sodass rechts abbiegende Autofahrer die Radfahrer erst sehen, wenn die fast auf ihrer Motorhaube liegen. Die Fahrer abbiegender Lastwagen, ohnehin größte Gefahrenquelle für Radfahrer im Stadtverkehr, haben nicht einmal die Chance, den Radweg einzusehen, den sie mit ihren 40-Tonnern kreuzen. Stadteinwärts führt die kaum noch vorhandene Markierung die Radfahrer direkt in den Türbereich parkender Autos – also in eine Gefahrenzone, vor der die Verkehrsverwaltung gerade mit einer Kampagne warnt.

Brockmann, den sonst so schnell nichts empört, steht auf der Mittelinsel, beobachtet das stete Gekabbel zwischen Abbiegern, Radfahrern und den neben ihnen laufenden Fußgängern, und redet sich in Rage: „Das ist unterirdisch! Schlimmer kann man den Radverkehr nicht missachten. Und dabei ist diese Kreuzung noch nicht mal autogerecht, sondern einfach nur eine Katastrophe.“

Für „unterirdisch“ befindet Experte Siegfried Brockmann die Verkehrsführung an der Warschauer Straße/Stralauer Allee.
Für „unterirdisch“ befindet Experte Siegfried Brockmann die Verkehrsführung an der Warschauer Straße/Stralauer Allee.

© Doris Spiekermann-Klaas/Tsp

Wie zum Beweis braust von der East Side Gallery auch noch ein Linksabbieger in die Radfahrerfurt Richtung Warschauer Straße. Er hat keine separate Grünphase, sondern muss heil durch dreispurigen Gegenverkehr kommen und gleichzeitig den Vorrang von Rad- und Fußverkehr beachten, von dem es in diesem bei Touristen beliebten Kiez reichlich gibt. Aus seinen Studien weiß Brockmann, dass der Blutzoll für diese Art des Linksabbiegens ohne eigene Ampelphase gewaltig ist. An dieser Kreuzung hier waren es binnen drei Jahren ein Toter, sieben Schwer- und 56 Leichtverletzte. Die meisten waren Fußgänger und Radfahrer, die von Abbiegern umgefahren wurden. Für Brockmann ist klar: „Unter der Brücke muss eine Autospur weg, damit der Radweg sichtbar auf der Fahrbahn geführt werden kann. Außerdem gehören die Ampelphasen für Geradeausverkehr und Abbieger getrennt. Man staunt schon, dass Stellen wie diese so lange existieren“, sagt Brockmann. „Es ist ja niedlich, mal 150 Meter Radweg abzupollern, aber wenn ich die Verkehrssenatorin wäre und Herzblut hätte, würde ich mir lieber Stellen wie diese vornehmen.“

Verpollerte Radwege? Symbolpolitik!

Gefärbte und verpollerte Radwege seien dagegen Symbolpolitik: Aus seiner Forschung weiß Brockmann, dass Falschparker extrem lästig sind, aber die größte Gefahr an Kreuzungen lauert und nicht auf den Strecken dazwischen. Brockmann hält die „Vision Zero“, also die – im Berliner Koalitionsvertrag verankerte – Idee, dass es im Straßenverkehr perspektivisch keine Schwerverletzten mehr geben darf, auf absehbare Zeit für utopisch. Aber die Langmut, mit der die allgegenwärtige Lebensgefahr auf Berlins Straßen hingenommen wird, erstaunt ihn.

Brockmann hat Herzblut, aber er ist kein Eiferer. Er denkt schnell und formuliert präzise. Das braucht er für seine Mission, den Verkehr als Ganzes zu verstehen und zu erklären, denn der alltägliche Wahnsinn auf den Straßen wird erst komplett, wenn man Fahrzeugtechnik, Infrastruktur und Psychologie zusammenbringt. Die Radfahrer, die gedankenlos bei gleichzeitigem Grün rechts an abbiegenden Lastwagen ohne elektronischen Abbiegeassistent vorbeiziehen, stehen exemplarisch für diesen Dreiklang.

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Brockmann steigt wieder in den Audi, den ihm sein Arbeitgeber spendiert hat, und steuert zum Frankfurter Tor, wo die Warschauer Straße die Karl-Marx-Allee kreuzt. Mit neun Schwer- und 60 Leichtverletzten binnen drei Jahren steht auch dieser Knoten weit oben auf der Liste der Unfallschwerpunkte. Auch hier dominieren Abbiegeunfälle, auffällig hoch ist der Anteil beteiligter Moped- und Motorradfahrer. Das mag daran liegen, dass die schnurgerade Magistrale zum Rasen einlädt, aber das Hauptproblem ist für Brockmann offensichtlich: Linksabbieger stauen sich erst in der Mitte des mehrteiligen Knotens und müssen sich irgendwann ohne Ampelhilfe entschließen loszufahren. Nicht alle schaffen es rechtzeitig vor dem Querverkehr.

Ein von der vorherigen Grünphase übrig gebliebener Toyota versucht es beim nächsten Durchgang mit einem Blitzstart – und kracht um ein Haar in zwei Radfahrer, die schon drei Sekunden früher Grün bekamen als der Autoverkehr. „Dass man sich so in der Kreuzungsmitte aufstellen muss, geht gar nicht“, sagt Brockmann. „Außerdem gehört hier ein Blitzer hin, damit die Leute 50 fahren und nicht 70.“

Die Mehrheit der Vernünftigen

So ein Blitzer kostet um die 100 000 Euro, amortisiert sich aber erfahrungsgemäß im ersten Betriebsjahr. Und die statistischen Unfallkosten allein dieser Kreuzung aus den Jahren 2015 bis 2017 summieren sich auf mehr als 2,3 Millionen Euro – zuzüglich der reinen Blechschäden und des Leides der Betroffenen.

Brockmann arbeitet mit seiner 16-köpfigen Mannschaft zwar im Auftrag der Versicherungswirtschaft, aber muss nach eigenem Bekunden keine Agenda verfolgen: Wenn die Versicherer mehr Schäden regulieren müssen, steigen halt die Beiträge. Zu seinen wichtigsten Botschaften gehört, dass Tempolimits keine Empfehlungen sind, sondern die unter optimalen Bedingungen zulässige Grenze markieren. In einer Studie hat Brockmann verdeckt das Tempo von Millionen Autos messen lassen – und dabei auch dokumentiert, wie wichtig die Mehrheit der Vernünftigen ist, um die Raser zu bremsen.

Die Masse macht’s, aber manchmal macht sie auch das Gegenteil. So wie an Berlins teuerstem Verkehrsknoten, der sich zu Füßen der Siegessäule befindet. Fünfspurig braust der Autoverkehr auf dem Großen Stern – im Rhythmus der Ampeln, deren Grüne Wellen die Autopulks zügig, vielleicht zu zügig, durch den Kreisel schwappen lassen. Ständig hupt irgendwer, und wenn gerade Rot geworden ist, löst oft der Blitzer an der Ausfahrt zur Altonaer Straße aus. Die Radarsäule ist Teil des bisher vergeblichen Versuchs, den Großen Stern unter Kontrolle zu bringen.

Der Radweg an der Kreuzung unter der Oberbaumbrücke führt hinter den Brückenpfeilern vorbei, die Radler werden so kurz „unsichtbar“.
Der Radweg an der Kreuzung unter der Oberbaumbrücke führt hinter den Brückenpfeilern vorbei, die Radler werden so kurz „unsichtbar“.

© Mike Wolff

Dort registrierte die Polizei im vergangenen Jahr 289 Unfälle. 35 Beteiligte wurden leicht verletzt, einer schwer. An keiner anderen Stelle gab es so viele Unfälle mit Verletzten, und an keiner anderen der stadtweit etwa 500 Unfallhäufungsstellen sind die Schäden derart groß: In den drei Jahren von 2015 bis 2017 summierten sie sich auf mehr als 2,6 Millionen Euro. Wobei diese Summe ein Produkt der Statistik ist, denn zum einen enthält sie nur die Unfälle mit Personenschäden, zum anderen basiert sie auf Pauschalen, mit denen die Bundesanstalt für Straßenwesen den volkswirtschaftlichen Schaden von Unfällen beziffert: Ein Leichtverletzter wird mit 14.600 Euro eingepreist, Schwerverletzte und Getötete kommen auf 162.000 Euro.

Kreisverkehre sind Unfallschwerpunkte

Die Unfallkommission, ein Gremium aus Verkehrspolizei und Verwaltungsleuten von Senat und Bezirken, hat sich mit dem Großen Stern 2013 befasst. Im Jahr darauf wurden die Markierungen und die Ampelschaltungen verändert; die Umrüstung der Ampeln auf besser sichtbare LEDs ist wegen der Kosten auf 2020 vertagt worden – ein typisches Ende für eine Empfehlung des Expertengremiums. Brockmann überlegt, wie sich der Stern in den Griff bekommen ließe. „Wahrscheinlich ginge es nur, indem man die Ampel als Bremse für den recht schnellen Autostrom schaltet. Aber wenn ich hier absichtlich eine Rote Welle erzeuge, hätte ich ringsum nur noch Stau.“

Dem Großen Stern, sagt Siegfried Brockmann, sei nur schwer zu helfen. Radfahrern müsse klar sein, dass die mehrspurigen Ausfahrten des Mega-Kreisels besonders ungeeignet seien, um bei Rot zu fahren, sagt er. Auch müssten die schlecht sichtbaren Ampeln nicht nur am Rand stehen, sondern Ausleger über die Fahrbahn bekommen. Aber sonst? Wo jeden Tag zigtausende Autos herumkurven und die Spur wechseln, da krache es eben auch oft. Die Polizeistatistik für 2018 bestätigt diesen Befund: Vier der fünf größten Unfallschwerpunkte sind Kreisverkehre.

Brockmanns Liste basiert zwar ebenfalls auf Polizeidaten, aber auf mehrjährigen. Denn erst über längere Zeiträume werden die chronischen Brennpunkte deutlich. Das im vergangenen Sommer in Kraft getretene Mobilitätsgesetz verlangt, dass in diesem Jahr 20 gefährliche Knoten entschärft werden müssen, vom nächsten Jahr an 30. Nachdem im vergangenen Jahr binnen 24 Stunden zwei Kinder auf den Straßen Berlins tödlich verunglückt waren, hatte die von den Grünen bestellte Verkehrssenatorin Regine Günther erklärt: „Wir werden die Unfälle genau untersuchen und alles unternehmen, dass unsere Straßen sicherer werden.“

Juristisch sind beide Unfälle noch nicht aufgearbeitet, aber zumindest in einem Fall war „alles“ zunächst wenig: Die Einmündung am Brunsbütteler Damm in Spandau, an der ein rechts abbiegender Lkw einen Siebenjährigen bei Grün überfuhr, sollte selbst nach der Katastrophe zunächst keine getrennten Grünphasen bekommen – obwohl dort zusätzlich ein Geländer die Sicht von der Fahrbahn auf den Geh- und Radweg erschwert.

Paradigmenwechsel in der Verwaltung

Die Senatorin verwies auf ihre Verkehrsfachleute, die sie vor unzumutbar langen Rotphasen und vor massivem Rückstau gewarnt hätten, wenn die Phasen getrennt würden. Dabei existieren solche Schaltungen an Zufahrten zur Stadtautobahn längst, ohne dass der Verkehr kollabiert wäre. „Ich glaube das auch nicht und würde es wenigstens mal ausprobieren“, sagt Brockmann.

Seitdem die Unfallzahlen seit Jahren immer weiter stiegen auf zuletzt 144 000, scheint in jüngster Zeit in der Verkehrsverwaltung ein Paradigmenwechsel einzusetzen: Nachdem am Alexanderplatz im Februar eine 37-Jährige von einem Abbieger überfahren wurde, sollen die Grünphasen dort getrennt werden. Dasselbe ist nun – entgegen der ursprünglichen Planung – am Brunsbütteler Damm geplant, wo der siebenjährige Junge starb. Auf Anfrage teilt die Verwaltung allerdings mit, dass keine grundsätzlich neuen Maßstäbe angelegt würden, sondern jeder Fall einzeln entschieden werde. Die Grünphasen am Alex zu trennen, habe die Senatorin entschieden.

Wie lang der Weg ist, zeigt die Bilanz der Berliner Unfallkommission, gegründet im Jahr 2005. Die hat seit ihrem Bestehen bisher 178 Brennpunkte untersucht, elf davon im vergangenen Jahr, acht in diesem. Etwa 1600 stehen laut der Verkehrsverwaltung noch auf der To-Do-Liste, also fast alle größeren Kreuzungen. Kriterium seien mindestens fünf schwere Unfälle in drei Jahren. Etwa alle vier Wochen werde getagt, wobei jeweils mindestens zwei neue Problemstellen erörtert würden. Mit dem bisherigen Tempo wäre die Unfallkommission nach 120 Jahren durch, mit dem neuen in der Hälfte der Zeit – zuzüglich Umsetzung, wohlgemerkt. Der Knoten am Oberbaum, der Brockmann so in Rage gebracht hat, war auch schon Thema in der Unfallkommission, das ist laut Verwaltung „allerdings schon sehr lange her“. Ob die Kreuzung noch mal aufgerufen werde, sei ungewiss.

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