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Im Hafen von Wismar liegen die Fischerboote am Kai.

© Mike Wolff

Gesellschaft: Kutter bei die Fische

Auf einem Fischkutter geht es um Leben und Tod. Unsere Autorin hat sich mit ihrem vierjährigen Sohn dennoch auf große Fahrt begeben - und junge Aale gerettet

Wie oft hat mein Sohn schon „Fische fangen“ gespielt. Das geht bei ihm so: Er hält einen langen Stock mit einer Schnur dran irgendwo ins Wasser. Und wundert sich, warum nichts anbeißt. In seinen Bilderbüchern sieht das immer so einfach aus. Und geangelt wird viel in Kindergeschichten. Auch Magnet-Angelspiele konnten ihn lange begeistern. Kein Wunder also, dass er eine Zeitlang immer wieder fragte: „Können wir mal richtig Angeln gehen?“ Doch sein Papa und ich sind schon lange Vegetarier und auch unser Sohn entschied dann mit zweieinhalb Jahren, dass er in der Kita lieber kein Fleisch und keine Fischstäbchen mehr essen wollte. Den Zusammenhang zwischen „Fische fangen“ und „Fische töten und essen“ sah er damals noch nicht. Er kam einfach nicht darauf, dass es den Fischen nicht gut bekommt, wenn man sie aus ihrem Element holt. Oder, dass sie beim Angeln vom Haken verletzt werden, selbst wenn man sie wieder hineinwirft. Beim Magnet-Angelspiel passiert den Holzfischen ja auch nichts.

Und dann kommt plötzlich die Gelegenheit, auf einem echten Fischerboot mitzufahren, bei einem Besuch in der Hafenstadt Wismar. Im Hotel, in dem wir übernachten, hängen überall Gemälde von großen alten Segelschiffen. Für meinen Vierjährigen sind das eindeutig „Piratenschiffe“. „Gibt es hier noch Piraten?“, fragt er immer wieder, als wir uns am Morgen in Richtung Hafen aufmachen. Diese Frage muss heute noch geklärt werden. Er ist aufgeregt, wie ein Pirat in See zu stechen. Ans Fische fangen denkt er gerade weniger.

Am Kai liegt die „Seeadler“, ein kleiner weißer Kutter, der leider nicht wirklich wie ein Piratenschiff aussieht. Macht nichts, mein Vierjähriger sieht trotzdem begeistert aus, als Berufsfischer Martin Saager uns mit einem trockenen „Moin“ begrüßt. „Ich hab' auch so ein Hemd“, sagt mein Sohn zu dem großen Mann im blauen Fischerhemd mit weißen Streifen und orange-gelber Latzhose. Dann zieht er gut gelaunt eine Schwimmweste an und klettert an Bord.

Seit 29 Jahren auf See: Der Fischer Martin Saager bei der Arbeit.
Seit 29 Jahren auf See: Der Fischer Martin Saager bei der Arbeit.

© Mike Wolff

Es nieselt, als wir ablegen, an diesem kühlen Septembervormittag. Saager steht im Steuerhaus, bis das Schiff aus dem Hafenbecken heraus ist und er den Autopiloten einstellen kann. Wir steuern auf die Hobener Bucht zu, die nicht weit entfernt ist. „Ich hab' ja überall Körbe stehen, aber die Hobener Bucht ist das nächste“, erklärt der große Mann in einem amüsierten Tonfall. Mit Körben meint er seine Aalreusen.

Wir passieren einen Nachbau einer Hansekogge und einen eleganten Zweimaster, die beide im Wismarer Hafen auf Fahrgäste warten. Mein Sohn ist begeistert, die gehen bei ihm schon als Piratenschiffe durch. Saager erzählt, dass er gelernter Fischer in zweiter Generation ist und seit 1999 bei jedem Wetter aufs Meer fährt. Dorsch und Flunder fängt der 39-Jährige vor allem im Herbst, wenn das Wetter oft „kein Spielkram“ ist, im Sommer Heringe und Aale. Dann nimmt er Touristen wie uns mit. „Seit sie uns die Dorschquote gekürzt haben, werden Touristenfahrten immer wichtiger“, sagt Saager. Er ist einer von drei hauptberuflichen Fischern in Wismar, zwei machen es im Nebenjob. „Zur Wendezeit gab es mal 140 von uns.“

In einem der Netze an Bord hängt eine vergessene Krebsschere. Saager hält sie meinem Sohn hin, zum Anfassen, aber der weigert sich und schüttelt den Kopf. Heute morgen gegen vier Uhr war Saager schon mal mit dem Kutter draußen. Dieses Jahr gebe es wenig Fisch, unter anderem wegen der Kormorane, sagt er. Naja, es kämen „etliche Faktoren“ hinzu. Besonders der Aalbestand sei im Moment sehr klein.

Dann sind wir bei einer kleinen Fahne angekommen, die aus dem Wasser ragt. Sie markiert eine Reuse. Das Boot dreht per Autopilot wie von Geisterhand bei. Saager lehnt sich über die Reling und zieht die Reuse nach oben. Mein Sohn guckt gebannt auf den immer größer werdenden Haufen aus Netzen, die, von Ringen zusammengehalten, eine sehr lange schlauchartiger Röhre auf dem Boden des Schiffes bilden. Darin zittert und zappelt es. Saager und sein Helfer beginnen, kleine Fische und größere Krebse aus dem Netz zu holen und in einen schwarzen Plastikbehälter zu werfen. Zimperlich gehen sie mit den Tieren nicht um. Ein Fisch zappelt in einer Pfütze auf dem Schiff herum. „Sind das wirklich Fische?“, fragt mein Sohn ungläubig. Er hat jetzt viele Fragen. „Hat der die gefangen? Und wie werden die totgemacht? Warum fängt er so kleine? Aber der kann die doch nicht alle anfassen!“, protestiert er. „Mama, manche sind schon tot! Wieso?“

Krebse, die sich in den Reusen verfangen, werden wieder freigelassen.
Krebse, die sich in den Reusen verfangen, werden wieder freigelassen.

© Mike Wolff

Ein besonders großer Krebs hat sich so sehr im Netz verfangen, dass Saager ihn kaum herausbekommt. „Der will kneifen“, ruft er. Und schafft es dann doch, ihn in den Eimer zu bugsieren. Er hält meinem Sohn einen Fisch zum Anfassen hin. Der weigert sich. „Warum nicht?“ fragt Saager, aber mein Sohn mag nicht antworten. Der Fisch fliegt zu den anderen in den Eimer.

Und dann wird sortiert: Für Saager gibt es gute und schlechte Fische. Die schlechten sind die Grundeln - die mag er nicht. „Die wurde eingeschleppt.“ Und zwar im Ballastwasser von großen Schiffen. Sie kommen aus dem Kaspischen und dem Asowschen Meer. „Grundeln fressen kleine Muscheln und dann finden die Flundern nichts mehr zu fressen“, erklärt Saager seine Abneigung.

Die guten Fische, das sind zum Beispiel die Aale. Saager zeigt uns einen: „Der ist zu klein, der kommt wieder rein.“ Das gilt für alle Aale, die er an diesem Tag herausholt. „Wenn man die Aalquappen wieder reinsetzt muss man gut aufpassen, dass die Möwen sie nicht schnappen.“ Ein Möwenschwarm begleitet uns schon eine ganze Weile, jetzt wird er immer größer und lauter. Saager wirft ihnen in hohem Bogen die Grundeln und die toten Fische als Futter zu. Kreischend stürzen sie sich darauf und sind abgelenkt, während wir die Aalquappen ganz dicht neben dem Schiff vorsichtig ins Wasser gleiten lassen. Jetzt überwindet mein Sohn sich und streichelt eine der Aalquappen, bevor sie zu den anderen ins Meer glitscht. „Die schwimmen jetzt ins Leben“, sagt Saager. Dieser Moment gefällt meinem Sohn und mir besonders gut. Er sagt in etwas trotzigem Tonfall: „Ich werde mal Fische-Arzt. Ich mag Tiere.“

Ein kleiner Fischer steuert die "Seeadler" sicher zurück in den Wismarer Hafen.
Ein kleiner Fischer steuert die "Seeadler" sicher zurück in den Wismarer Hafen.

© Mike Wolff

Die gefangenen Krebse bleiben alle im Eimer. Sie leben noch und es ist faszinierend anzusehen wie sie übereinander und durcheinander krabbeln.

Plötzlich fällt meinem Sohn etwas auf. „Wer steuert eigentlich das Schiff?“ „Es braucht keiner zu steuern, der Wind treibt uns“, antwortet der Fischer. Und dann kommt das Beste: Zurück darf mein Sohn das Schiff steuern. Naja, eigentlich ist es immer noch der Autopilot. „Schön festhalten“, sagt Saager und mein Sohn schaut stolz und konzentriert nach vorn.

Auf dem Rückweg kommt uns ein großer Fischkutter entgegen. Einer mit Mast, der Schleppnetze an Auslegern hinter sich herziehen kann und ein bisschen mehr nach Piratenschiff aussieht als die „Seeadler“. „So einen hatte ich früher auch. Der war 60 Jahre alt, wir sind mit ihm bis nach Rügen und Bornholm gefahren“, erzählt Saager. „Bis er kaputtging.“

Als wir wieder zum Liegeplatz der Seeadler kommen, zeigt Saager auf ältere Kutter im Hafen: „Das sind nur noch Attrappen.“ Sie sind zu schwimmenden Fischbrötchen-Imbissen umgebaut. Gerade öffnen sie, denn es ist Mittagszeit. Wir gehen stattdessen zu einem vegetarischen Restaurant in der wunderschönen Altstadt von Wismar. Und auf dem Weg dorthin treffen wir tatsächlich noch einen Piraten: Klaus Störtebeker im Lederwams, der gerade einer Gruppe Touristen von den längst vergangenen Zeiten erzählt, in denen der berüchtigte Pirat hier gelebt haben soll. „Ist das wirklich ein Pirat“, fragt mein Sohn? Ich mag ihn nicht anlügen: „Nein“, sage ich. „Das ist ein Stadtführer, der hat sich nur verkleidet.“ Mein Sohn ist nicht allzu enttäuscht, schließlich hat er mit Martin Saager ja heute schon einen echten Seefahrer getroffen.

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