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Als Lotte Lenya das „Lied vom weißen Käse“ sang: Das Bild zeigt die Schauspielerin mit ihrem Ehemann Kurt Weill 1931 in Berlin. Vier Jahre später emigrierten beide in die USA. 1933 war der von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgte Weill nach Frankreich geflohen.

© Courtesy of the Weill-Lenya Research Center, Kurt Weill Foundation for Music, New York

Kurt Weills „Lied vom weißen Käse“: Kritik im Viervierteltakt

Seit den sechziger Jahren galt es als verschollen. Nun ist das von Kurt Weill komponierte „Lied vom weißen Käse“ in den Theaterhistorischen Sammlungen der Freien Universität wieder aufgetaucht.

Kurt Weill hatte das Stück für seine Ehefrau komponiert, die Sängerin und Schauspielerin Lotte Lenya. Im November 1931 sang sie das „Lied vom weißen Käse“ im Programm der „Roten Revue – Wir sind ja sooo zufrieden“, die die Junge Volksbühne, eine Abspaltung der Volksbühne, mehrfach zur Aufführung brachte. In den sechziger Jahren notierte Lotte Lenya: „Unauffindbar. Wird wohl in irgendeinem Keller vergraben sein.“

Dass sich 50 Jahre später der ins Blaue vermutete Keller als das Souterrain des Instituts für Theaterwissenschaft an der Freien Universität entpuppen sollte, war auch für Peter Jammerthal eine Überraschung: „In der Kurt-Weill-Forschung ist ja schon jeder Stein umgedreht worden“, sagt der promovierte Theaterwissenschaftler und Archivleiter. Zuletzt sei 1983 nennenswertes unbekanntes Material aufgetaucht. Das theaterwissenschaftliche Institut der Freien Universität verfügt über einen umfangreichen Archivbestand, der die Berliner Theatergeschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts, bedeutende Künstlernachlässe sowie Foto- und Presseausschnittsammlungen umfasst.

Die Geschichte der Wiederentdeckung beginnt mit Lothar Schwab, Professor für Theaterwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Schon als Student hatte er bei Trödlern nach Fotos von Theaterschauspielern und -schauspielerinnen aus dem 19. Jahrhundert und nach alten Programmheften gestöbert – und war oft fündig geworden. Um seinen stattlichen Bestand zu verkleinern, vermachte der Wissenschaftler Teile seiner Sammlung in den vergangenen Jahren der Freien Universität. Darunter war auch der schuhkartongroße Nachlass von Gerda Schäfer, einer Schauspielerin, die Anfang der 1930er Jahre für eine oder zwei Spielzeiten zum Ensemble der Volksbühne gehörte.

Der Weill-Spezialist Elmar Juchem "fiel fast vom Stuhl"

Nach ihrer kurzen Bühnenkarriere geriet sie in Vergessenheit, nicht einmal ihr Todesdatum ist bekannt. Unter den Dokumenten, Papieren und Briefen fand sich auch eine Partitur von Kurt Weill mit dem kuriosen Titel: „Lied vom weißen Käse“. Doch weder Lothar Schwab noch Peter Jammerthal ahnten anfangs, was sie da in den Händen hielten. Vor zwei Monaten, im September, besuchte der in New York lebende Musikwissenschaftler und Editionsleiter der Kurt-Weill-Gesamtausgabe Elmar Juchem die Theaterwissenschaftlichen Sammlungen. Er wollte sich zwei Besetzungszettel der von Kurt Weill vertonten Komödie Happy End im Original ansehen. Bei der Gelegenheit legte ihm Peter Jammerthal auch das fragliche Manuskript vor – und Elmar Juchem „fiel fast vom Stuhl“: Es handelte sich nämlich nicht, wie zunächst vermutet, um eine Abschrift, sondern um die originale Niederschrift von Kurt Weill.

Das Lied erzählt vom vergeblichen Versuch eines Wunderheilers, einem blinden Mädchen durch Auflegen von „weißem Käse“ das Augenlicht zurückzugeben. Joseph Weißenberg war Heilmagnetiseur, Religions- und Kirchenreformer und verstand sich als Wiedergeborener des Heiligen Geistes. Ende der zwanziger Jahre hatte er in Berlin eine Gemeinde von mehreren zehntausend Anhängern um sich versammelt. Seine Therapie aus Hausmitteln und religiöser Verordnung bringt Elmar Juchem auf die Formel „Quarkwickel und zwei Vaterunser“ – weshalb ihm der Berliner Volksmund den Spitznamen „Weißkäseheiler“ verpasste. 1930 wurde Weißenberg in zwei Fällen angeklagt, nachdem ein Diabetiker nach einer Quarkbehandlung gestorben und ein Mädchen erblindet waren. Beide Verfahren endeten mit dem Freispruch.

Im auf- und abhüpfenden Foxtrott-Rhythmus, der den eher getragenen Hauptteil des Stückes einrahmt, zeige sich, so Elmar Juchem, „der typische Weill der späten zwanziger Jahre“, ähnlich wie in der Dreigroschenoper oder im Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Weill benutze im „Lied vom weißen Käse“ den Foxtrott „wie einen Vorhang, der aufgeht und gleichzeitig signalisiert: Das, was jetzt folgt, ist nicht bierernst gemeint.“ Im Epilog senkt sich der Varietévorhang wieder und hinterlässt so den Eindruck einer in sich abgeschlossenen Nummer.

Am Ende jeder Strophe zitiert Weill einen Vers aus dem evangelischen Kirchenlied „So nimm denn meine Hände“ und persifliert damit die Weißenberg’sche Therapie aus Quarkwickeln und Gebeten. Das „Lied vom weißen Käse“ endet mit einem Tagtraum des Mädchens: Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, wenn alle Menschen blind wären, dann müsste niemand sehen, „was auf dieser Welt so vor sich geht“.

Das Lied war eine politische Anspielung auf die Situation im Land

Kurt Weills Schaffen ist eng verbunden mit dem kulturellen Aufschwung und den politischen Verhältnissen seiner Zeit. Auch das „Lied vom weißen Käse“ (Text von Günther Weisenborn) ist ein gesellschaftskritisches Stück und kann seine Entstehungszeit nicht verleugnen: Die Jahre 1930 bis 1933 standen im Zeichen der Weltwirtschaftskrise und des Niedergangs der ersten deutschen Demokratie. Im September 1931, am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes, hatte die SA pogromartige Ausschreitungen auf dem Berliner Kurfürstendamm organisiert, bei der Reichstagswahl ein Jahr zuvor war die NSDAP zur zweitstärksten Kraft avanciert.

Damit bekommt der „weiße Käse“ – Quark – doppelte Bedeutung: Für das blinde Mädchen ist er ein wirkungsloses Wunderheilmittel, eine Enttäuschung, und für das Publikum eine Metapher dafür, dass man vor den politischen Verhältnissen am liebsten die Augen verschließen würde. Bei alledem geht das Vergnügliche des Liedes jedoch nicht verloren.

Bleibt abzuwarten, welche Schätze im Institut für Theaterwissenschaft noch ihrer Entdeckung harren. Peter Jammerthal jedenfalls setzt sich dafür ein, dass die lebendigen und rege genutzten Sammlungen weiter geöffnet werden: Seit drei Jahren wird ihre Digitalisierung vorangetrieben, um die Bestände auch für künftige Forschungsfragen zugänglich zu machen.

Das „Lied vom weißen Käse“ soll bald wiederaufgeführt werden. Peter Jammerthal freut sich sich schon darauf.

Sören Maahs

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