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Es sind 3410 Kilometer von Berlin ins verwüstete Afrin. In Gedanken sind viele Kurden in Deutschland immer im Konflikt. "Wenn wir sehen, dass in Afrin gekämpft wird, dass kurdische Frauen zu den Waffen greifen, dann macht uns das stolz", sagt Zilan.

© Fotos Verena Brüning, AFP/Stringer; Montage:TSP

Kurden in Berlin: Du bist Kurde

In den 80ern flohen die ersten Kurden vor Folter und Verfolgung nach Berlin. Heute fliehen wieder Kurden aus Syrien und der Türkei. Aber der Konflikt folgt ihnen.

Es war ein Tag im November 2016, als sie kamen, um Rezan Aksoy zu holen. Aksoy schrieb gerade an seiner Magisterarbeit, hatte außerdem eine Stelle als Theaterregisseur in Izmir angetreten, hatte Theater mit Flüchtlingen aus Syrien gemacht, und hatte darüber hinaus, vielleicht war das dumm, vielleicht mutig, eine Petition der Initiative "Schauspieler für den Frieden - Unterstützung für Akademiker des Friedens" unterschrieben.

Und: Aksoy hatte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisiert, war dabei gefilmt worden, das Video war auf Facebook gelandet. Dann stürmte die türkische Polizei seine Wohnung.

Sie traten seine Tür ein, durchsuchten seine Räume und nahmen mit, was sie für belastend hielten. Sie fuhren zu seiner Familie und suchten dort. "Wo ist Rezan?", fragten sie. Aber Rezan Aksoy war nicht da.

Aksoy war in Berlin, saß exakt an diesem Tag zufällig auf einer Konferenz der Alice-Salomon-Hochschule und hielt einen Vortrag über das Verhältnis von Kunst und Flucht. Zwei Tage später landete eine Mail in seinem Postfach: die Kündigung seiner Stelle als Regisseur. Rezan telefonierte mit seinen Anwälten. Was sollte er tun? Zurückkommen und sich stellen? Nein, sagten die Anwälte. Bleib da. Hier verschwindest du nur in einer Zelle. Aksoy beantragte in Deutschland politisches Asyl. Mehr als 100.000 Oppositionelle sitzen bereits in türkischen Gefängnissen.

Aksoy ist ein stiller und zurückhaltender Mensch. Sein Gesicht lässt er von einem wilden Bart schützen, seine Augen liegen müde in dunklen Höhlen. Berlin ist sein Zufluchtsort geworden und der Südblock, dieses linke und queere Café- und Kulturhaus direkt am Kottbusser Tor, sein neuer Wirkungsort. Vor ein paar Wochen hat Aksoy mit professionellen Schauspielern hier "Woyzeck" inszeniert. Die Vorstellungen mit mehreren hundert Zuschauern waren komplett ausverkauft.

Kurdisch zu sein ist keine anerkannte nationale Identität

"Meine Arbeit und mein Widerstand hier gegen Erdogan halten mich auf den Beinen. Damit kann ich meinen Schmerz überspielen. Ich weiß, dass ich stark sein muss", sagt er. Denn Rezan Aksoy ist nicht einfach nur ein Theaterregisseur, der zu laut und zu deutlich seine Meinung gesagt hat. Aksoy, das kommt zu allem anderen noch dazu, ist Kurde.

Etwa eine Million Kurden leben derzeit in Deutschland. Wie viele es genau sind, kann nur geschätzt werden - kurdisch zu sein ist keine anerkannte nationale Identität. Offiziell gelten alle Kurden als Türken, Iraner, Iraker oder Syrer. Klar ist aber: Seit die Kurden im Norden Syriens erst vom Islamischen Staat, nun vom syrischen Regime unter Baschar al-Assad bekämpft werden, seit die türkische Regierung nicht mehr verhandelt und sowohl auf ihrem Staatsgebiet als auch in Syrien militärisch gegen die Kurden vorgeht, müssen sie wieder aus ihrer Heimat fliehen.

Wie damals. Die Kurden waren in den 80er Jahren die ersten Flüchtlinge, die sich auf Artikel 16a des Grundgesetzes beriefen und als politisch Verfolgte nach Deutschland flohen. Und auch heute suchen wieder Kurden Schutz in Deutschland - und finden sich wie die Kinder der Kurden, die damals flohen, mitten in diesem neuen, alten Konflikt wieder.

"Plötzlich waren die Fragen da. Fragen, die mich nicht mehr losließen. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehöre ich?", sagt Bahtiyar.
"Plötzlich waren die Fragen da. Fragen, die mich nicht mehr losließen. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehöre ich?", sagt Bahtiyar.

© Verena Brüning

Draußen tobt der Berliner Wedding. Hier drinnen, in den Räumen eines kurdischen Vereins - Tür auf, kritischer Blick am Tresen, wer rein will, muss dazu gehören -, befindet man sich auf einmal in einer anderen Welt: Kurdistan. Das Land, das nicht ist, hat hier eine kleine Vertretung.

Rühren in den Teetassen, der Fernseher läuft. Er zeigt kurdische Nachrichten. Bilder aus den Kriegsgebieten. Küsschen, Händeschütteln, Schulterklopfen. Jung und alt, Männer und Frauen, die rauchen und diskutieren. An den Wänden hängen kurdische Fahnen, an den Türen kleben Plakate, die zu Demonstrationen aufrufen. Auf einem Tisch zwischen Blumensträußen und Kerzen stehen zwei gerahmte Bilder: Auf einem ist ein junger Mann und auf dem anderen eine junge Frau zu sehen. Schön ist sie, mit ihren langen und schwarzen Haaren, mit ihren dunklen Augen, die melancholisch in die Ferne blicken. Fast schon zärtlich hält sie ihr Gewehr in den Händen. Sie ist eine Kämpferin der kurdischen YPG-Miliz und starb am 20. März in Afrin. Über ihr schaut, natürlich, das Porträt des PKK-Chefs Abdullah Öcalan auf den Kulturverein.

Die PKK, die 1978 gegründete Arbeiterpartei Kurdistans, ist oft nicht weit, wenn man mit Berliner Kurdinnen und Kurden spricht. Der Verfassungsschutz beobachtete die PKK seit einer Reihe von Anschlägen auf türkische Einrichtungen Anfang der 90er, klassifizierte sie als Terrororganisation. Offiziell ist sie in Deutschland verboten. Gleichzeitig schreibt der Verfassungsschutz, wirkten seit dem Friedensangebot Öcalans selbst "verantwortliche PKK-Aktivisten beruhigend auf den Nachwuchs der Organisation ein, um den inzwischen erworbenen 'guten Ruf' der PKK nicht zu gefährden".

Mitten in dieser riesigen Auseinandersetzung sitzen drei junge Menschen, zweite Generation eingewanderter Kurden: Sie sind in Deutschland geboren, sind deutsche Staatsbürger, sprechen Deutsch und machen deutsche Bildungskarrieren: Zilan das Abitur, Ceylan eine Ausbildung als Kauffrau, Bahtiyar studiert Pädagogik. Ihre Nachnamen, ihre Gesichter wollen sie nicht gedruckt sehen, zu gefährlich.Woran denkt ihr? "An unsere Heimat."

Heimat, was ist das für euch? Berlin?

"Nein. Wir kommen aus Kurdistan. Wir sind Kurden."

Aber ihr kommt doch aus dem Wedding, aus Neukölln und aus Stuttgart, seid hier geboren und aufgewachsen. Was heißt es für euch: Kurde sein?

Eine Frage wie ein Sprungbrett: Mitten hinein in einen jahrhundertealten und gerade jetzt wieder sehr aktuellen Konflikt. Einen, der dreieinhalbtausend Kilometer weit weg und gleichzeitig in Berlin stattfindet.

Was aber hat all das mit Zilan, Ceylan und Bahtiyar zu tun? Wie kommt es, dass sie einen Ort als ihre Heimat empfinden, an dem sie nie länger als ein, zwei Wochen im Urlaub gewesen sind? Und vor allem: Warum machen sie sich einen Kampf zu eigen, der so weit weg stattfindet?

"Wir hier können protestieren. In der Türkei kann das inzwischen niemand mehr", sagt Ceylan. Am Revers trägt sie einen Öcalan-Button.
"Wir hier können protestieren. In der Türkei kann das inzwischen niemand mehr", sagt Ceylan. Am Revers trägt sie einen Öcalan-Button.

© Verena Brüning

Bahtiyar ist groß, muskulöse Arme, breites Kreuz. Seine Augen sind freundlich, die Stimme sanft, manchmal lächelt sein Mund. Er wird ein guter Pädagoge werden. Einer, den man schon beim Händeschütteln mögen muss. Seine Geschichte als Kurde beginnt mit seinen Eltern, wie eigentlich alle diese Geschichten. Nichts beginnt hier bei einem selbst.

"Plötzlich waren die Fragen da", sagt Bahtiyar. "Die Fragen, die mich nicht mehr losließen. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehöre ich?" Da war er 15 oder 16 Jahre alt, ein einfacher Jugendlicher mit einfachen Eltern aus dem abgehängten Rollbergkiez in Neukölln.

"Woher kommen deine Eltern? Aus der Türkei? Welche Stadt genau?"

Erst waren die Fragen leise, fast flüsternd, dann wurden sie lauter und dröhnender. Dabei war es gar nicht er, der damit anfing, sondern die türkischen Jungs in seiner Schule: Woher kommst du? Aus Berlin? Nein, du kommst nicht aus Berlin. Woher kommen deine Eltern? Aus der Türkei? Ja, aber welche Stadt genau? Aber, das ist doch in den kurdischen Gebieten. Du bist kein Türke. Du bist Kurde.

Sie spuckten die Worte aus. Mit Verachtung. Als ob ein "Kurde" etwas Böses, Schlechtes sei. Die Fragen schlugen ein, wie eine Salve scharfer Munition: geschossen um zu treffen. Und um zu verletzen. Bahtiyar und seine Mitschüler lebten zwar in Berlin, aber die Herkunft ihrer Eltern stand hinter ihnen wie ein Schatten, drohend, lauernd. Und langsam begannen die Fragen zu wirken. Bahtiyar wunderte sich. Wer bin ich wirklich? Warum kommen meine Eltern aus den kurdischen Gebieten in der Türkei? Was ist das überhaupt: ein Kurde?

Bahtiyar fragte seine Eltern, aber die antworteten nicht. Wollten die Vergangenheit und die Wurzeln zurücklassen. Hatten Angst aufzufallen. Auf gar keinen Fall sollten die Verfolgungen, die Angst, der Kummer sie einholen. Deutschland, das bedeutete für Bahtiyars Eltern ein neues Leben. Aber Bahtiyar wollte Antworten auf seine Fragen. Und auf die Fragen seiner türkischen Mitschüler. Er wollte wissen, was die anderen meinten, wenn sie sagten, dass er ein 'dreckiger Kurde' sei und ein 'PKK-Terrorist' - und dass man die alle töten sollte.

Schließlich setzte sich Bahtiyar vor seinen Rechner und gab bei Google das Wort "Kurde" ein. Als erstes las er, dass es zwischen 20 und 30 Millionen Kurden gibt, das größte Volk ohne eigenen Staat, Größenordnung: irgendwo zwischen Australien und Peru, ganz genau kann das niemand sagen. Dann las Bahtiyar von Unterdrückung, von Massakern, vom Verbot der kurdischen Sprache, von Unrecht und Leid. Etwas in Bahtiyar begann zu klingen. Und so begann vor dem Computer eine Suche, die für Bahtiyar bis heute nicht zu Ende ist. Eine Suche, die ihn zu Demonstrationen, auf Veranstaltungen, in kurdische Vereine und ins Internet führte. Es ist eine Suche nach Koordinaten und nach Sinn. So politisch wie persönlich. Ceylan, die neben Bahtiyar sitzt, nickt. Bei ihr war es ganz ähnlich.

Zuhause, bei ihren Eltern, ihrem Vater, waren die Kurdenfrage, Kurdistan, das Dasein als Kurde kein Thema. Der Vater, der in der Türkei im Gefängnis gesessen hatte, wollte die Vergangenheit nicht nach Deutschland holen. Hatte Angst um seine Tochter und um seine Familie. Sein Schweigen sollte sich als Schutz über seine Familie und seine Tochter legen. Und dann stellte Ceylan all diese Fragen. Und dann waren da wieder die Bilder im Fernsehen, die Meldungen in den Zeitungen: Unruhe in den kurdischen Gebieten. Offensive gegen Kurden in Syrien. Erdogan droht mit Angriff auf Kurden im Nordirak.

Die eigene Vergangenheit ist nämlich das eine. Was die aktuellen Meldungen aus den Kriegsgebieten machen, ist das andere. Politik und Identität in Zeiten des Smartphones. "Es ist eine Spirale, die sich immer schneller dreht. Manchmal versuche ich mir zwei Tage Pause davon zu nehmen, aber es geht nicht, etwas zieht mich immer wieder dahin", sagt Bahtiyar.

Es sind 3410 Kilometer von Berlin ins verwüstete Afrin. In Gedanken sind viele Kurden in Deutschland immer im Konflikt.
Es sind 3410 Kilometer von Berlin ins verwüstete Afrin. In Gedanken sind viele Kurden in Deutschland immer im Konflikt.

© AFP/Stringer

Die Bilder brennen sich vom Bildschirm in sein Gehirn: Von den Attacken auf die Demonstrationen der pro-kurdischen Partei HDP. Dem Einsatz türkischen Panzer und Scharfschützen gegen Jugendliche in den kurdischen Städten. Vom Angriff des IS auf Kobane. Vom türkischen Angriff auf Afrin. Bilder von toten Kindern, Frauen, Jugendlichen, Männern, von Zivilisten und kurdischen Kämpfern. Je stärker der Strom wird, desto dringlicher wird das Gefühl, etwas tun zu müssen. Irgendwas.

Bahtiyar startet eine eigene Nachrichtenseite auf Facebook. Er wollte den Strom ordnen und die Kontrolle über die Bilder zurückgewinnen. "Ich verglich die Nachrichten miteinander: türkische, kurdische, europäische, bildete aus dem einen Querschnitt und schrieb daraus Meldungen in Deutsch und Englisch", sagt er. Die Follower-Zahlen wuchsen: erst 1000, dann 10.000, schließlich 100.000. Nach und nach hatte Bahtiyar Kontakte zu Kurden in sämtlichen Städten und Dörfern, die ihn mit Informationen, Nachrichten und Videos direkt aus dem Krieg belieferten. Körperlich war Bahtiyar noch in Berlin. Sein Kopf aber war in Kobane und Afrin. Bei Anschlägen. Bei Verhaftungen. Dann wurde die Seite von Facebook gesperrt. Und Bahtiyar entschloss sich, eine Pause zu machen. "Ich konnte auch nicht mehr. Irgendwann war es auch für mich genug", sagt er.

"Auf uns lastet ein unglaublicher Druck", sagt Ceylan, die dritte am Tisch. "Wir hier in Deutschland können protestieren. Wir werden gehört. In der Türkei kann das inzwischen niemand mehr." Zilan sagt: "Wenn wir dann sehen, dass in Afrin gekämpft wird, das kurdische Frauen, so jung wie wir, zu den Waffen greifen und sich verteidigen, dann macht uns das stolz."

Sie gehen selbstverständlich, fast leicht mit den Worten "Waffen" und "Krieg" um. Sie, die im Frieden aufgewachsen sind, die Folter und Verfolgung nicht am eigenen Leib erleben mussten. Wie ihre Eltern.

Ceylan, Zilan und Bahtiyar wollen noch zu einer Veranstaltung einer kurdischen Studentenorganisation. Sie sagen: Wir. Wir Kurden. Der Konflikt, die Distanz, das Schweigen in den Familien und der ständige Strom an schlechten Nachrichten, das alles hat sie reduziert. Der Konflikt hat ihnen gesagt, wer sie sind.

Bücher, gefährlich wie Waffen

Aksoy, der Theaterregisseur, weiß, dass er Kurde ist, dass er in einem kurdischen Dorf in den Bergen aufgewachsen ist, die kurdische Sprache spricht, dass das seine Wurzeln sind, das Grundrauschen seiner Herkunft.

Auch Rezan Aksoy muss weiter, zu einem Treffen mit der alevitischen Gemeinde Berlins. Sie wollen schauen, ob sie zusammen etwas organisieren können. Zum Abschied sagt er: "Ich weiß, ich kann nicht in der Türkei sein, deswegen ist es gut, dass ich hier bin."

Mehmet Seker seufzt. Er hat das alles schon einmal erlebt. Die Unterdrückung, den Kampf, die Eskalation. Aber auch die großen Gefühle: Wut, Angst, Bedeutung. Seker ist 68 Jahre alt, trägt sein weißes Haar zu einem Zopf gebunden. Sein bartloses Kinn reckt er kantig in die Welt. 40 Jahre war Seker Lehrer in Zehlendorf und unterrichtete Kinder mit Migrationsgeschichte, "Eingliederungsklassen" hieß das damals. Und eingegliedert, genau im Sinne dieses sehr deutschen Wortes, hat sich dabei auch Seker selbst.

"Wenn wir sehen, dass in Afrin gekämpft wird, dass kurdische Frauen zu den Waffen greifen, dann macht uns das stolz", sagt Zilan.
"Wenn wir sehen, dass in Afrin gekämpft wird, dass kurdische Frauen zu den Waffen greifen, dann macht uns das stolz", sagt Zilan.

© Verena Brüning

Es war ein Tag im Frühjahr 1971, als sie kamen, um Mehmet Seker zu holen. Es waren die Wochen nach dem Militärputsch in der Türkei, die Generäle der türkischen Armee zerschlugen damals Demokratie und Zivilgesellschaft, linke Parteien und kurdische Organisationen. Unter Folter hatte ein Freund Sekers Namen bei einem Verhör genannt.

Also holten sie ihn, sperrten ihn ein und folterten ihn. So schlimm, dass Seker seinen Kindern nie davon erzählt hat. So schlimm, dass Seker heute, 45 Jahre später in Berlin, Tränen in den Augen hat, wenn er davon erzählt. Und trotzdem hat Seker, der damals zur ersten Kurden-Generation gehörte, die in Deutschland Schutz suchte, eine große Milde und Wärme in seinem Blick und in seiner Stimme. "Ich bin heute Deutscher mit kurdischen Wurzeln", sagt Seker. "Ich bin Deutschland dankbar, dass es mich aufgenommen hat."

Seker hat einen Verein namens Yekmal gründet, den "Verein der Eltern aus Kurdistan in Berlin". Gemeinsam unterstützen sie kurdische Familien, bieten Deutschkurse an und haben zwei Kitas eröffnet. Sekers größter Stolz aber sind seine Bücher: seine Lehrbücher zur kurdischen Sprache und seine kurdischsprachigen Kinderbücher. Jahrzehntelang war die Sprache in der Türkei verboten und kaum unterrichtet worden. Sekers Bücher aber verbreiteten sich, in Deutschland, aber auch in der Türkei.

Einmal sah Seker im Fernsehen, wie die türkische Armee bei einer Razzia beschlagnahmte Objekte präsentierte: Waffen. Und Sekers Bücher. "Genauso gefährlich wie Waffen, da war ich sehr stolz", sagt Seker, dessen echter Name nicht auf den Büchern steht. "Das war meine Art, Widerstand zu leisten. Friedlich, aber effektiv."

Mehmet Seker ist mit seinen Gedanken oft in Kurdistan, in Syrien, der Türkei, dem Irak. Immer wieder sammelt er Geld in der kurdischen Community, fliegt in den Süden der Türkei, kauft Medikamente und Essen. Wie die jungen Berliner Kurden kennt er jedes Ereignis, jede Entwicklung und wird wütend, wenn es darum geht, wie die syrischen Kurden, die gegen den Islamischen Staat kämpfen, von der Welt allein gelassen werden. "Das ist unser Schande", sagt er. Aber wenn Seker "uns" sagt, meint er den Westen, meint Deutschland, das Schweigen der Bundesregierung und auch die Leopard-Panzer aus deutscher Produktion, die in Afrin einrollen.

Die Wut und die Hilflosigkeit der Kurden in Berlin wird in diesen Wochen wieder größer. Der Krieg flammt wieder auf. Nicht nur in Syrien, im Irak und in der Türkei, nicht nur dort, wo die Kurden leben. Sondern auch in Zilan, Ceylan und Bahtiyar. Vor Kurzem war eine Demonstration in Berlin, mal wieder. Die drei schrien "Erdogan, Terrorist", in diesem rhythmischen Stakkato. Hielten trotzig Fahnen mit den kurdischen Farben in die Luft und trugen Transparente, auf denen "Stoppt den Krieg in Kurdistan" stand, durch die schulterzuckende Stadt. Es war laut. Überschlagende Stimmen dröhnten aus Lautsprechern. Und am Rand standen Erdogan-Anhänger mit der Türkei-Fahnen, es gab Wortgefechte und Gerangel, die Polizei musste dazwischen gehen.

"Kurde sein heißt Abgrenzung, Flucht und Widerstand", hatte Rezan Aksoy im Südblock noch gesagt. "Ein Kurde muss sich immer beweisen, immer Widerstand leisten. Auch wenn er es nicht möchte: Er wird von außen dazu gebracht."

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