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Großschreibung, wo Kleinschreibung angemessen wäre. Skulptur am Rand eines Neubaugebiets im baden-württembergischen Wetzgau.

© Kreuzschnabel

Zwischen Muttersprache und Vaterland: Polyglott unter Luftwurzlern

Die französische Philosophin Barbara Cassin sucht nach einem zeitgemäßen Begriff von Heimat.

Von Gregor Dotzauer

Wovon Menschen sprechen, wenn sie von ihrem Zuhause sprechen, bietet Anlass zu vielen Missverständnissen. Während die Deutschen mit einem metaphysischen Glänzen in den Augen die bloße Herkunft zur Heimat verklären können, herrschen woanders, auch mangels geeigneter Wörter, pragmatischere Vorstellungen.

Das pays natale mag einem Franzosen nicht weniger sentimentale Gefühle einflößen, und im Spannungsfeld von Vaterland und Muttersprache mag ein solches Zuhause für nationalistische Verirrungen ebenso anfällig sein – der Zungenschlag ist ein anderer. Je nachdem, zwischen welchen Sprachen und Kulturen man es zu definieren versucht, trägt es andere Akzente.

Barbara Cassins philosophischer Essay über „Heimat, Exil und Muttersprache“ beginnt sogar mit einem etymologischen Paukenschlag. Denn „Nostalgie“, der titelgebende Begriff, unter dem sie dieses Verhältnis betrachtet, ist ihren Recherchen zufolge eine Schweizer Erfindung ohne jede altgriechische Würde.

[Barbara Cassin: Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause? Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 143 Seiten, 22 €.]

Zusammengesetzt aus nostos (Heimkehr) und algos (Schmerz), weist ihn das „Dictionnaire historique de la langue française“ zum ersten Mal 1678 als Prägung des Arztes Johann Jakob Harder nach, der damit das Heimweh Schweizer Söldner unter Ludwig XIV. bezeichnete und wenige Jahre später zu einer regelrechten, die militärische Ordnung bedrohenden Krankheit avancierte.

In Homers „Odyssee“, dem Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, ist das Wort Nostalgie, sosehr es für die Sehnsucht des Helden stehen könnte, zu Frau, Sohn und Hund nach Ithaka zurückzukehren, nirgends zu finden. Die 1947 geborene Hellenistin, eine der namhaftesten, wenngleich hierzulande bisher kaum übersetzten Denkerinnen Frankreichs, geht an die Wurzeln unseres abendländischen Selbstverständnisses, um es in einem Plädoyer für ein zeitgemäßes Luftwurzlertum aufzulösen.

Mit Hannah Arendt (und deren erstem Ehemann Günther Anders, der das Bild „schwimmender“ Wurzeln bevorzugte) erkennt sie in Exilanten, Flüchtlingen und Juden die Avantgarde der condition humaine, zumindest deren „am wenigsten abwegige Form“.

In drei Kapiteln, die erst der „Odyssee“, dann Vergils „Aeneis“, der römischen Fortführung des griechischen Mythos, und schließlich der Sprache als Medium des Heimischwerdens gelten, entwickelt sie eine anti-essenzialistische Lesart: Man hat Heimat nicht, man muss sie sich erschaffen, und man erschafft sie, indem man nicht der trügerischen Universalität eines einzigen logos vertraut, sondern der unendlichen Übersetzbarkeit von Sprachen, die jeden einzelnen Menschen als „polyglottes Lebewesen“ ausweisen: „Man wird nicht als Deutscher geboren.“

Heimat ist in diesem Sinn nicht, was die Muttersprache in ihrer unvergleichlichen Intensität an Weltzugängen bereitstellt, sondern der Spalt, den sie zu anderen Sprachen offenlässt.

Der Sprachwechsel, den Arendt erzwungenermaßen im amerikanischen Exil vollzog, war von daher auch ein Glück. In ihrem „Denktagebuch“ spricht sie von der „schwankenden Vieldeutigkeit der Welt“. Die Unsicherheit ihrer Bewohner würde nicht existieren, „wenn es nicht die Erlernbarkeit der fremden Sprache gäbe, die uns beweist, dass es noch andere ,Entsprechungen’ zur gemeinsamen identischen Welt gibt als die unsere, oder wenn es gar nur eine Sprache gibt.“ Letztlich, so Cassin, „wird die Muttersprache immer durch ihre Denaturalisierung gerettet.“

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In Cassins dichtem, mit schnörkelloser Klarheit geschriebenen Essay überlagert sich das Persönliche mit dem Philosophischen und dem Philologischen. Korsika, die Insel, die sie weitaus mehr als die Île-de-France, der sie entstammt, als ihr Zuhause empfindet, wird zugleich als der Ort von Senecas Verbannung durch Kaiser Claudius lebendig.

Dort lernte der Stoiker in der Nachfolge des italienischen Troers Aeneas, dem ersten bewussten Exilanten, Umsiedlung und Migration als menschlichen Normalfall zu begreifen. Cassins großes Kunststück bei alledem besteht darin, die spezifische Modernität dieser Erfahrung, der sie gar nicht mit Levinas, Lacan und Derrida zu Leibe rücken müsste, schon in den mythologischen Texten angelegt zu sehen.

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