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Wenn der Jäger mit dem Bogen. Felsmalerei in der Sahara (undatiert und ohne weitere Ortsangabe).

© akg-images / Album / Oronoz

Zwischen Anthropologie und Mythologie: Die Beute im Auge

Der große italienische Essayist und Kulturphilosoph Roberto Calasso zieht eine Summe seines Werks und erzählt von Göttern, Menschen und Tieren.

Man könne „sehr gut ohne die Götter leben“, behauptet Roberto Calasso. Schon die griechische Jagdgöttin Artemis hatte einen Götterliebling, den riesenhaften Jäger Orion, nachdem sie ihn mit Pfeil und Bogen erledigt hatte, zu ewiger Untätigkeit ans Himmelszelt katapultiert. Die Menschen taten es dem bald nach und reduzierten den Einflussbereich der Götter auf den Sternenhimmel.

Auf Erden hingegen war kein Platz mehr für das Ränke- und Maskenspiel, mit dem sich die Götter unter die Sterblichen gemischt hatten, um ihren Favoriten nachzustellen und obendrein noch blutige Opfer zur Beschwichtigung ihres Zorns zu verlangen: anfangs Menschenopfer, bis an deren Stelle nach der Abdankung der heidnischen Götter Tiere geopfert wurden.

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Schwieriger wird die Sache, wenn die Menschen ganz ohne Göttliches und Sakrales auskommen wollen, während sie im gleichen Zug selbst geschaffene neue Idole und Dämonen installieren und sich diesen auch dann noch unterwerfen, wenn auch sie einen grausamen Tribut verlangen. Beim Betreten einer der düsteren Zonen von Calassos ebenso beunruhigendem wie betörend schönem Buch muss der Leser freilich schlucken, wenn er über das 21. Jahrhundert liest, da seien „Massaker an die Stelle der Opfer getreten“.

Ersetzung des Menschenopferkults

Denkt der 1941 in Florenz geborene Kulturphilosoph und Essayist aber nur einmal darüber nach, wieso das Wort „Opfer“ partout nicht aus der Welt zu vertreiben ist, so könnte ihm die Ahnung kommen, dass bereits bei der Ersetzung des Menschenopferkults durch das ritualisierte Töten anderer Kreaturen etwas schiefgegangen sein muss.

Sollte an dem Opfer-Wort, als Universalmetapher für alles Widrige, Schmerzhafte, Tödliche, vielleicht noch immer die ferne Erinnerung an ein urzeitliches Blutvergießen kleben? Als Fatum für allzeit mögliche Rückfälle in unbewältigte Abgründe?

„Aber wie hatte alles angefangen?“ Die Frage stand schon am Eingang von Calassos berühmtestem Buch „Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia“. Die meisterhafte Neuerzählung antiker Göttermythen war eines der ersten Teile eines mittlerweile zehnbändigen „work in progress“. Nach allerhand „corsi und ricorsi“, Ausflügen zu Kafka und Baudelaire, zum Maler Tiepolo oder zu den altindischen Veden, kehrt Calasso mit „Der Himmlische Jäger“ zurück in die Mittelmeerwelt zwischen östlicher und westlicher Ägäis, wo alles seinen Anfang nahm.

Im Anfang waren auch Menschen und Tiere noch nicht voneinander geschieden. Alles war Kreatur und im Zustand schwankender, sich stetig wandelnder Formen begriffen. Bis die Menschen damit begannen, jene Tiere, die ihnen selbst am gefährlichsten waren, genauer zu beobachten und ihre Raubzüge nachzuahmen.

Der Mensch als schrecklichstes aller Raubtiere

Die Beutejagd steht am Anfang aller Trennungen von Mensch und Tier, Beobachter und Beobachtetem – bis der Mensch am Ende dieses Prozesses zum schrecklichsten aller Raubtiere wurde, insofern er als einziges Lebewesen sich auch die eigenen Artgenossen zur Beute macht und selbst ohne Not tötet, mit eigens dafür geschaffenen Mordwerkzeugen.

„Nachdem er den Übergang zur Prädation vollzogen hatte, wusste Homo nicht, wie er diesen neuen Teil seiner Natur behandeln sollte. Er entschied sich, ihn in seiner wörtlichen Bedeutung einzuschränken und als Metapher unbegrenzt auszudehnen. Er erfand die Jagd als zweckfreie Tätigkeit. Sie war der erste l’art pout l’art.“

In 14 Kapiteln, an deren jedem der Leser in das Buch einsteigen kann, zieht und variiert Calasso sämtliche Register seiner erzählerischen, essayistischen und philosophischen Möglichkeiten. Er breitet einen ganzen Kosmos aus – und seine Bibliothek.

Es ist die Bibliothek eines Poeta doctus, in dem die Bücher, heimlichen Affinitäten und den Gesetzen der guten Nachbarschaft gehorchend, in anhaltende Gespräche miteinander vertieft sind, denen der Gelehrte lauscht und als Autor antwortet, indem er seinen Gedanken auf dem Papier im selben Maße freien Lauf lässt, wie seine Augen und Hände entlang der Regalwände schweifen.

Simone Weil als philosophische Nothelferin

Diesem Kolloquium hinzu gesellt sich, als erweiterte öffentliche Bibliothek, die kontinuierlich fortgesetzte Biblioteca Adelphi des gleichnamigen Mailänder Verlags, den Roberto Calasso als eines der angesehensten und letzten unabhängigen Verlagshäuser Italiens führt.

So bietet dieses Buch eine Art Summa eigener wie in der Doppelrolle des Verlegers mit aus der Taufe gehobener Werke. Calassos Lektüre und Wiederlektüre eine ganzen Welt in Form stets neu geordneter und neu kombinierter Fragmente gleicht einem andauernden Symposion mit seinen Hausgöttern und Lieblingsautoren: Mit dabei sind Platon und Plotin, Kafka und Canetti, Proust und Borges, Hofmannsthal und Henry James – und wie eine heilige Nothelferin die große Philosophin und Mystikerin Simone Weil, deren widerständiges und dialogisches Denken allem Systemdenken widerspricht.

Gerade an neuralgischen Stellen seiner Argumentation streut Calasso gerne das eine oder andere Zitat von ihr wie funkelndes Kristall in den Text ein. So etwa in einem Exkurs zur Kybernetik und zu dem, was geschlossene wissenschaftliche Weltbilder an vermeintlich vernachlässigbaren Größen und inkommensurablen Resten gewöhnlich unter den Tisch fallen lassen: „Aber“, so lautet Simone Weils Einwand, „das Vernachlässigbare ist die Welt“. Ja, kommentiert Calasso, „der Rest ist die Welt.“ Genau da, dazwischen, da lasset uns tanzen!

Roberto Calasso: Der Himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 614 Seiten, 38 €.

Volker Breidecker

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