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Blumen- und Kerzen-Meer vor der Gedächtniskirche

© imago/Jürgen Hanel

Zwei Jahre nach dem Breitscheidplatz-Attentat: Seit Menschen gedenken

Gedanken über unser Verhältnis zu Erinnerung, Gedächtnis und Trauer in kollektiven Ritualen der Ehrung

Von Caroline Fetscher

Zum zweiten Jahrestag der Erinnerung an die Getöteten auf dem Berliner Breitscheidplatz versammelten sich am Donnerstagmorgen Gäste um Berlins Regierenden Bürgermeister, der an der Treppe der Gedächtniskirche einen Kranz niederlegte. Ein Meer an Blumengestecken und Schleifen säumte die Stufen, in die ein Jahr zuvor ein symbolischer Riss aus goldglänzendem Metall eingelassen worden war. Das Kunstwerk soll den jähen Augenblick beschwören, in dem ein Lastwagen, gesteuert von einem mordbereiten Islamisten, mit Wucht in das Leben Hunderter Zeitgenossen einbrach.

Noch Sekunden vor der Tat waren sie durch die improvisierte Budenlandschaft auf dem alljährlichen Weihnachtsmarkt flaniert. Dann stürzte das Fahrzeug auf sie zu, und zwölf Menschen starben durch das Attentat. Ihnen zu Ehren wurde am Abend um sechs Uhr im Inneren der Kirche eine Andacht abgehalten, der Pfarrer verlas die Namen, die heute auf Gräbern stehen und im Alltag nicht mehr gerufen werden.

Um 20.02 Uhr, dem Zeitpunkt der damaligen Tat, erklangen vom Kirchturm zwölf Glockenschläge, einer für jedes Opfer des Attentats. Die Toten waren in Namen verwandelt worden, die Namen dann in Klänge. Tag für Tag, hatte der Pfarrer über den Ort gesagt, hielten „viele Menschen an der Stelle inne“, und brächten so ihre Anteilnahme zum Ausdruck: „Mit ihnen verneigen wir uns zum Gedenken.“

Was unterscheidet Gedenken von Erinnern oder Trauern?

Gedenken – ein Wort, in dem Rituale wie dieses verankert sind. Ein seltsamer Begriff. Was unterscheidet „Gedenken“ von Denken, Gedanken, Erinnern oder Trauern, und was hat es damit gemein? Erstaunlich oft – das fällt zunächst auf – ist der Begriff grammatisch verrutscht in Gebrauch. Anzeigen in Tageszeitungen, veröffentlicht von den Betreibern des Weihnachtsmarkts vor dem Schloß Charlottenburg, beschworen am Donnerstag den Geist der Stunde: „Der Terror wird uns nicht besiegen“ hieß es dort. Und: „Zum Gedenken der Opfer vom 19. Dezember 2016“. Gemeint war offensichtlich: „Im Gedenken an die Opfer“ oder „Wir gedenken der Opfer“.

Denn diese können ihrer selbst nicht gedenken, sie sind nicht mehr da. Wir, die Lebenden, können „der Opfer gedenken“, wir können an die denken, die gestorben sind, die fehlen. Im Grimmschen Wörterbuch taucht „Gedächtnis“ unter anderem 1878 auf als substantiviertes Verb zu „gedenken“, verwandt wiederum mit „Andacht“, als eine Form der devotio, was im Lateinischen für Verehrung, Ehrung, verehrende Hingabe steht. Gedächtnis, hieß es dort auch, stehe „jetzt volksmäszig noch für lebhaftes Denken überhaupt“, sowie „für andächtiges Denken, Gedenken noch im 15. und 16. Jahrhundert“.

Abendandacht in der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz zwei Jahre nach dem islamistischen Terroranschlag
Abendandacht in der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz zwei Jahre nach dem islamistischen Terroranschlag

© dpa/Carsten Koall

Das „Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart“ im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache, betreut von der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, liefert Verlaufskurven für Wortstatistiken auf Basis des digitalisierten Zeitungskorpus ab 1945. Hier zeigt sich eine nach Kriegsende flach empor laufende Kurve für das Wort „Gedenken“, die in den späten 1960er Jahren ansteigt und ihren Spitzenwert zum 40. Jahrestag des Kriegsendes erzielt. 1948 war das Wort kaum in Zeitungen aufgetaucht. Nach 1985 fällt die Kurve fast steil wieder ab, erreicht 2009 einen Tiefpunkt und klettert seither – nach Nine Eleven und anderen Terrorakten – wieder sacht empor.

Mit der Frequenz seines Gebrauchs stieg oder fiel vermutlich auch die jeweilige Kenntnis der grammatischen Verknüpfungen. Ungezählte Leserbriefe ebenso wie das Grammatische Informationszentrum des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim widmen sich verirrten dativischen Formulierungen wie „Wir wollen ihm in Ehren gedenken“ oder „Es wurde den Helden gedacht“ und klären über den vernachlässigten Genitiv auf. Doch auffällig ist die sprachliche Verunsicherung mit dem Gedenken nicht nur als Ärgernis für geplagte, Leserbriefe schreibende Studienräte. In der grammatischen Unsicherheit offenbart sich vielmehr eine semantische. Sie weist auf die im Begriff „Gedenken“ verborgene Frage, was das Gedenken eigentlich darstellt: eine Handlung, einen Zustand, ein Ereignis? Und auf die Frage, wer dabei die Akteure, die Subjekte, die Objekte sind.

Im kollektiven Gedenken gebt es darum, Verstorbene zu ehren

Gedenken gehört in den Raum des Nichtalltäglichen. Niemand sagt: „Ich gedenke am Wochenende meiner Großmutter und pflanze frische Blumen auf ihr Grab.“ Was mit „Gedenken“ bezeichnet wird, ist weniger ein individueller Akt trauernden und dankbaren Erinnerns. Akte des Gedenkens, ob asketisch still oder pompös dekoriert, beanspruchen eine um das Wir erweiterte Sphäre, eine kollektive Inszenierung. Gedenken betont den Zweck des Staatsakthaften, das gemeinsame Anerkennen Verstorbener, oft Ermordeter. Es geht um Vergewisserung und Gewissen, um die Selbstvergewisserung einer Gruppe Lebender und deren Tribut an Verstorbene, meist Opfer von Kriegen oder Attentaten. Dabei geht es auch, womöglich „seit Menschengedenken“, um den Triumph über die Täter, die Mörder.

Rituale des Gedenkens haben stets politische Funktion, und sie bewirken stets etwas Ambivalentes. Während das Erinnern an Verstorbene und Vergangenes sich im individuellen Gedächtnis ohne Unterlass lebendig verändert, lassen kollektive Rituale des Gedenkens Erinnerung gerinnen. Sie wird fixiert in Denkmälern und Gedenkorten, Stolpersteinen, zeremoniellen Wiederholungen, die Strategien der Bewältigung liefern und der Untröstlichkeit den Trotz der Glorifizierung entgegensetzen, sie es als Stein oder als goldener Riss im Boden. Mit dem Gedenken wird ein Teil des lebendigen Gedächtnisses der gemeinsamen, entpersönlichten Erinnerung geopfert. Weil aber daran kein Weg vorbeiführt, ist es wichtig, sich dessen bewusst zu sein, damit nicht die Steine über das Gedächtnis triumphieren.

Das Mahnmal auf dem Breitscheidplatz für die Opfer des Terroranschlags von 2016
Das Mahnmal auf dem Breitscheidplatz für die Opfer des Terroranschlags von 2016

© AFP

Bei dem Geistlichen Konrad von Megenberg findet sich im 14. Jahrhundert eine Erläuterung zu Gedächtnis und Seele, die wie eine Vorstufe wirkt zu Sigmund Freuds Entwurf von Es, Ich und Über-Ich: „sind drei kräfte der seele in der hirnschal, in drei kämerlein vertheilt, vorn fantastica oder imaginaria (…) in der mitte intellectualis, das ist vernunft, aber dasz dritt kämerlein ist ze hinderst in dem haupt und in dem ist der Seel kraft, diu da haiszt memorialis, dasz ist gedaechtnüss“.

Ohne Gedächtnis, das wussten sie damals schon, keine Seele. Ohne die warnende, lehrende Funktion des Erinnerns, das überhaupt erst den symbolischen Raum öffnet und Kontexte aus dem Chaos oder Mosaik von Erfahrungen herstellt, verlieren Individuen wie Gesellschaften ihre Fähigkeit, sich fortzuentwickeln. Daher bieten Retrospektiven die Voraussetzung für prospektives Handeln, für das Planen von Zukunft.

Brecht erhoffte sich mildes Gedenken auch für jene, die unzureichend handelten

Nie war beides, das Zurückblicken und das Vorausblicken, relevanter, als nach dem Zivilisationsbruch der Shoah, der die hierzulande bis heute meisten Rituale des Gedenkens evoziert hat. Aber bis sie nach 1945 entstanden, dauerte es lange – das Holocaust-Mahnmal in Berlin wurde erst errichtet, als die meisten Überlebenden bereits Greise waren. Heute wandern erschütterte Einzelgänger neben schlendernden Schulklassen zwischen den grauen Stelen des stilisierten Gräberfeldes. Die allermeisten der deutschen Besucher sind Nachkommen der Tätergeneration.

Wenige Tage vor der Berliner Gedenkfeier am Donnerstag zur Erinnerung an die Opfer eines islamistischen Attentats, eröffnete im marokkanischen Marrakesch der jüdisch-arabische Redner André Azoulay die erste Konferenz zum Gedenken an muslimische Retter von Juden während des Nationalsozialismus und zur Aufarbeitung des Holocaust im arabischen Raum. Der Tag, sagte Azoulay, werde Geschichte schreiben. Und das sollte er.

In seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ beklagte Bertolt Brecht das Versagen der Menschlichkeit im Angesicht der Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus und hoffte auf mildes Gedenken – nicht an Helden, sondern an diejenigen, die unzureichend handelten. Er erweiterte damit das Paradigma des Gedenkens um eine Facette, die der heutigen Traumaforschung zu Tätern entspricht: „Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid“ heißt es in dem Gedicht. Es endet mit den Zeilen: „Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein / Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.“

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