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Humboldt hielt einen Teil seiner Kosmos-Vorlesungen in der Singakademie, jetzt Sitz des Maxim Gorki Theaters.

© Alamy Stock Photo/Wikimedia Commons

Zur Eröffnung der Kosmos-Lesungen: Ganz großes Publikum

Was hat Alexander von Humboldt in seinen Kosmos-Vorlesungen gesagt? Henriette Kohlrausch hat es aufgeschrieben.

Der Andrang ist riesig, die Stadt ist in Aufregung: Alexander von Humboldt wird sprechen! Bisher hat der große Gelehrte, der erst vor kurzem aus Paris nach Berlin zurückgekehrt ist, nur in der Universität Vorlesungen gehalten. Vor 400 Studenten hat er von seiner Amerikareise (1799–1804) berichtet, zweimal wöchentlich erklärt er ihnen die Naturphänomene dieser Welt, von den Sternen bis zu den Moosen. Nun wünscht sich die Berliner Gesellschaft eine Wiederholung dieser Vorträge „in einem geräumigeren Lokale“. Darum hat der berühmte Naturforscher die Singakademie neben der Universität gemietet und lädt am 6. Dezember 1827 zum ersten Mal das große Publikum ein. Die rund tausend Plätze sind heiß begehrt. Schwägerin Caroline von Humboldt verspricht ihrer „theuren Freundin“ Henriette Kohlrausch: „Ich will versuchen, Ihnen drei Billets für Alexanders Vorlesungen zu verschaffen.“

Ein brillanter Redner

Zwischen Dezember 1827 und Ende März 1828 strömt immer donnerstags mittags ein gemischtes Publikum in das erst vor kurzem fertiggestellte Gebäude hinter der Neuen Wache. Wenn die Humboldt-Universität am heutigen Sonnabend im Maxim Gorki Theater, also im Gebäude der Singakademie, ihre Kosmos-Lesungen eröffnet, dann erinnert sie damit an jene Vorträge Humboldts, die als Kosmos-Vorlesungen in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen sind.

Insgesamt hat Humboldt 62 Vorlesungen an der Universität und 16 Vorträge in der Singakademie gehalten. Das Vortragen hatte Humboldt schon in seiner Pariser Zeit (1807-1827) in Salons und Instituten geübt, er war zeitgenössischen Berichten zufolge ein brillanter Redner. Was aber hat er gesagt? Er sprach frei, aus seiner Feder sind nur Gliederungspunkte und Stichwörter für die beiden Vortragsreihen erhalten. Wir können es also eigentlich nicht wissen – hätten nicht einige seiner Hörer mitgeschrieben und diese Mitschriften anschließend in eine lesbare Form, eine Rein- oder Nachschrift, gebracht. Es war üblich, derartige „Kolleghefte“ zu verfassen, die dann im Bekanntenkreis zirkulierten. Von den Universitätsvorlesungen sind neun Nachschriften erhalten, die im Projekt „Hidden Kosmos“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und der Humboldt-Universität von 2014 bis 2016 ediert wurden.

Prächtiger roter Einband

Für die Singakademie dagegen ist nur eine einzige Nachschrift bekannt. Sie lagert in der Staatsbibliothek, 162 Seiten, 81 Blatt, sorgfältig in einen prächtigen roten Einband gebunden, ohne Autornamen. Ein anonymes Werk also, so glaubte man bisher. Doch nun können Forscher mit einer Überraschung aufwarten: Die Nachschrift stammt von eben jener Henriette Kohlrausch, die ihr Billet Caroline von Humboldt zu verdanken hatte.

Christian Thomas, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen“ der BBAW, und Christian Kassung, Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität, sind eher per Zufall auf die Spur Henriette Kohlrauschs gekommen. Von der Originalnachschrift, so erzählen sie, seien zwei Abschriften bekannt. Ein Sammler aus Norwegen, der vor Jahren eine davon ersteigert hatte, habe ihnen Scans geschickt. Auf der Titelseite stand: „Abschrift des Heftes der Frau Geheimräthin Kohlrausch“. Christian Thomas verglich die Handschrift des Originals mit Briefen Kohlrauschs, und ja, die Schrift stimmte überein. Was wir über Humboldts Vorlesungen in der Singakademie wissen, wissen wir also durch die Arbeit einer Frau.

Henriette Kohlrausch.
Henriette Kohlrausch.

© Selbstbildnis, Paetel Verlag 1926

Henriette Kohlrausch war hochgebildet

Und diese Arbeit war höchst anspruchsvoll. „Sie musste genau zuhören, verstehen, das Gesagte in stark verkürzter Form niederschreiben – wir wissen nicht, mit welcher stenografischen Methode – und anschließend aus ihren Stichpunkten einen eigenen, zusammenhängenden Text verfassen“, erklärt Christian Kassung. „Sie schreibt detailreich auf dem Stand der damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse.“

Henriette Kohlrausch (1781-1842) war also ganz offensichtlich eine hoch gebildete Frau. Die Tochter des Geheimen Finanzrats Johann Wilhelm Eichmann und seiner Frau Male Eichmann heiratete 1815 den Mediziner Heinrich Kohlrausch, der zuvor Wilhelm und Caroline von Humboldt als Leibarzt in Rom gedient hatte, daher die enge Verbindung zur Familie Humboldt. Zum Zeitpunkt der Kosmos-Vorlesungen war Heinrich Kohlrausch bereits verstorben, seine Witwe lebte nach seinem Tod noch einige Zeit in Berlin, dann als Gesellschaftsdame der Königin von Hannover. Zu Lebzeiten war sie eine bekannte Frau. Ihr Cousin schrieb über sie, ihre „Kenntnisse in den Naturwissenschaften, namentlich in der Botanik, waren selbst von Sachkennern anerkannt“. Der Botaniker Karl Sigismund Kunth, der Humboldts pflanzliche Mitbringsel aus Amerika auswertete, benannte sogar eine ganze Pflanzengruppe nach ihr: „Kohlrauschia“.

Man reichte die Hefte herum

Für Christian Kassung sind die Nachschriften vor allem interessant, weil sie Aufschlüsse über die Entstehung und Popularisierung von Wissen und über neue Formen von Autorschaft geben. „Die Praxis des Mitschreibens war ein kreativer Prozess in einem Netzwerk von Akteuren“, sagt er. Man diskutierte über die Texte, reichte sie weiter – das Bürgertum zeigte auf diese Weise seinen Anspruch, an Bildung teilzuhaben. Humboldt selbst hat übrigens keine der Nachschriften autorisiert. „Nichts ist widerwärtiger, als publiziert zu sehen, was ein Gemisch von Gehörtem und Selbstzugesetztem ist“, schrieb er zwei Jahre vor seinem Tod, bezogen auf Kolleghefte allgemein.

Im Publikum waren viele Frauen

Dass ein gemisches Publikum zuhörte, war ihm allerdings wichtig. In einem Brief schrieb er später, „vom Maurermeister bis zum König“ seien alle Schichten in der Singakademie vertreten gewesen. Christian Thomas bezweifelt das: „Ob ein Maurermeister donnerstags mittags Zeit hatte?“ Er glaubt, dass die Mischung des Publikums sich eher auf die Anwesenheit von Frauen bezog. Während an der Universität nur Männer zugelassen waren, stellten Frauen in der Singakademie – ähnlich wie bei Privatvorlesungen in Salons – einen wichtigen Teil des Publikums. Und offensichtlich kamen viele aus echtem wissenschaftlichem Interesse, auch wenn manche Herren das anzweifelten und glaubten, über das weibliche Publikum spotten zu müssen.

Dass Henriette Kohlrauschs Nachschrift, herausgegeben von Christian Kassung und Christian Thomas, jetzt als Buch erscheinen wird, ist insofern eine späte Genugtuung. Das Buch wird voraussichtlich im August veröffentlicht (Insel Verlag), es wird erstmalig den zuverlässigen Text der 16 Vorträge präsentieren – und Henriette Kohlrauschs Name wird zusammen mit dem Alexander von Humboldts auf dem Titelblatt stehen.

Die Nachschrift der Kosmos-Vorträge von Henriette Kohlrausch ist im Deutschen Textarchiv abrufbar. Hier ein Ausschnitt aus der 7. Kosmos-Vorlesung am 24. Januar 1828:

„Wenn bei der Betrachtung des Naturbildes, welches ich aufzustellen versuche, wir uns heute mit einer Ansicht des Oceans beschäftigt haben werden, wenn ich die Vertheilung der Continente, und den Einfluß derselben, sowie den der Strömungen im Luftmeere, auf die Klimatologie erläutert habe, so bleibt mir noch übrig auf die Geographie der Pflanzen, und die Vertheilung der Thiere hinzudeuten, um hieran die Bemerkungen über die Verschiedenheit der Menschenracen anzuschließen.

Von den äußersten Nebelflecken bis zur ersten Spur der Vegetation, die in dem sogenannten rothen Schnee erkannt worden ist, werde ich somit eine Uebersicht der Gesammtheit des Geschaffenen gegeben haben; eine Aufgabe, die mit einiger Vollständigkeit zu lösen, in so kurzer Zeit, meine Absicht unmöglich seyn konnte. Den allgemeinen Umriß jener großen Erscheinungen werde ich hierauf in einzelnen Theilen mehr auszumalen und zu erläutern versuchen, gleichsam wie der bildende Künstler auf einzelne Studien zu einem größeren Werke mehr Ausführlichkeit und Genauigkeit wendet. Mein Zweck wird erreicht seyn, wenn es mir gelungen ist, einer achtbaren Versammlung, deren Interresse für meine Bestrebungen ein ehrendes Zeugniß ablegt, für den Standpunkt der Kultur in dieser Hauptstadt, das Wesentliche einer wissenschaftlichen Naturbetrachtung anzudeuten, indem ich die Einheit der Natur in ihren Erscheinungen vorzugsweise hervorzuheben mich bemühe.“

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