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Blumen und Kerzen an der Synagoge in Halle, auf die im Oktober 2019 ein Anschlag verübt wurde. Dabei wurden zwei Menschen in der Nähe der Synagoge erschossen.

© imago/Steffen Schellhorn

Zur Antisemitismus-Debatte: Die Kriminalisierung der Israelkritik

Verwirrende Definitionen im aktuellen Verfassungsschutzbericht, Streit um Straßennamen: Von welchem Antisemitismus reden wir eigentlich? Ein Debattenbeitrag.

Der vor einigen Tagen veröffentlichte Verfassungsschutzbericht für 2019 mutet fast schon etwas nostalgisch an, bezieht er sich doch auf die Vor-Corona- Zeit, als Masken entweder von Räubern oder von Faschingsclowns getragen wurden. Gleichzeitig macht die Lektüre einem bewusst, dass auch die Pandemie die Probleme, mit denen der Verfassungsschutz befasst ist, nicht verschwinden lassen kann.

Dies gilt unter anderem für den Antisemitismus. Die Coronakrise veranlasste etliche Verschwörungstheoretiker, antisemitische Vorurteile aufzuwärmen, und trug dazu bei, Öl ins Feuer der Antisemitismusdebatte zu gießen. Über die Folgen wird wohl der nächste Bericht Auskunft geben. Der aktuelle Bericht setzt die antisemitischen Gewalttaten ins Verhältnis zur politischen Kriminalität insgesamt.

Die schlechte Nachricht: Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Übergriffe stieg von 48 im Vorjahr auf 56. Die gute Nachricht: Im Vergleich zu den fremdenfeindlichen Gewalttaten (695) bleibt die Zahl eher gering. Wobei man über den Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft wenig erfährt.

Die Zahlen sind das eine, eine genauere Definition des Begriffs etwas anderes. Über welchen Antisemitismus reden wir? Im Verfassungsschutz-Bericht liest sich das verwirrend. Zum Antisemitismus im Rechtsextremismus heißt es: „Unter Antisemitismus versteht man die antizionistisch, religiös, sozial, politisch oder rassistisch motivierte Feindschaft gegen Juden“. Zum Antisemitismus im Islamismus heißt es: „Unter dem Begriff Antisemitismus versteht man die politisch, sozial, rassistisch oder religiös fundierte Feindschaft gegenüber Juden“.

Wieso ist das nicht identisch formuliert? Weshalb steht beim Rechtsextremismus der Antizionismus an erster Stelle? Wissen die Verfasser, was Antizionismus ist? Dass es viele jüdische, vor allem ultraorthodoxe Juden gibt, die antizionistisch sind und per definitionem keine Antisemiten sein können?

Eine Expertenkommission unterschied 2012 zwischen "klassischem" und antizionistischem Antisemitismus

Im Kapitel über Rechtsextremismus heißt es außerdem, hinzu komme „ein sekundärer Antisemitismus, der sich in Relativierung oder Leugnung des Holocaust äußert“. Der Hinweis fehlt beim Islamismus. Ist er dort nicht relevant? Ist die Definition je nach Tätergruppe anders zu formulieren? Bemerkenswert auch, dass Antisemitismus im Zusammenhang mit Linksextremismus gar nicht vorkommt.

Die Inkonsequenzen haben ihre Ursache womöglich auch darin, dass die Verfasser auf die Antisemitismus-Definition der Bundestags-Expertenkommission von 2012 zurückgegriffen haben. Dort wurde zwischen dem „klassischen“ und dem sekundären antizionistischen („israelkritischen“) Antisemitismus unterschieden. Auch die seit 2016 in Deutschland als heilig geltende Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) trägt zur Verwirrung bei.

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Zwar heißt es dort schlicht: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“. Doch bei den elf Beispielen dazu beziehen sich sieben auf Israel.

In Israel wird die Gleichsetzung von Antisemitismus und Israelkritik als Erfolg verbucht

Die Verlagerung der Definition resultierte wohl aus Deutschlands Empfindlichkeit gegenüber Antisemitismus-Vorwürfen, gleichzeitig lag sie im Interesse Israels. Der Bundestagsbeschluss vom Mai 2019, der die eher marginale Boykottbewegung BDS zum Hauptvertreter des Antisemitismus aufwertete, ist dafür ein eklatantes Beispiel: Auch Kritik an der israelischen Politik könnte nun zum Delikt werden, wenn sie ohne weiteres als antisemitisch angesehen wird. Spuren dieser Aufwertung des „Antizionismus“ auf der Antisemitismusskala sind auch in der Definition des rechtsextremen Antisemitismus im Verfassungsschutzbericht zu finden.

Ronen Manelis, Staatssekretär im israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten, verbucht im Interview mit der Zeitung „Haaretz“ die Gleichsetzung von Antisemitismus und Israelkritik explizit als Erfolg seiner Behörde. „Die Welt adaptiert momentan eine Formel, die den Antisemitismus neu definiert. Wer herausfinden möchte, wie erfolgreich wir sind, prüfe nur nach, wie fest diese Formel inzwischen in der internationalen Politik verankert ist.“

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Unverantwortlicher Umgang mit dem Begriff Antisemitismus findet sich in diesen Tagen auch noch in ganz anderen Zusammenhängen. Wenn in Berlin, im Zuge der weltweiten ikonoklastischen Welle im Namen der politischen Korrektheit, der Vorschlag der Umbenennung der U-Bahn-Station Mohrenstraße in Glinkastraße mit dem Verweis auf den angeblichen Antisemitismus des russischen Komponisten abgeschmettert wird, wird es endgültig absurd.

Glinka, Wagner, Treitschke - was soll noch alles umbenannt werden?

Michael Glinka war ein Sohn seiner auch von Antisemitismus geprägten Zeit. Und kennt man die Geschichte des Antisemitismus in Berlin, so stellt sich die Frage, ob die Umbenennung des Richard-Wagner-Platzes, der Treitschkestraße oder des Jahn-Stadions nicht viel dringlicher wären.

Eine Gedenktafel für Glinka in Berlin Mitte.
Eine Gedenktafel für Glinka in Berlin Mitte.

© imago/Joko

Genauso gut könnte man von der israelischen Regierung dann auch die Umbenennung der Frederic-Chopin-Straße in Jerusalem verlangen. Wie wäre es mit etwas gesundem Menschenverstand beim Blick auf die Widersprüchlichkeiten in Geschichte und Kultur?

Antisemitismus hieß früher Judenfeindschaft und ist eine pauschal negative Bewertung „der Juden“ als vermeintliche Rasse, Nation, Religionsgemeinschaft oder soziale Gruppe, aufgrund eines Vorurteils. Historische Kenntnisse über den Begriff Antisemitismus wie auch über die Geschichte der Judenfeindschaft sind eine conditio sine qua non in der Debatte. Sonst überlässt man das Feld den Ignoranten.

Der Kampf gegen den Antisemitismus sollte mit Augenmaß geführt werden, mit Blick auf die Frage nach der „kritischen Masse“ an Antisemitismus, auf die Absicht, den Kontext.
- Shimon Stein war von 2001 bis 2007 israelischer Botschafter in Berlin. Zur Zeit ist er Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheit Studien (INSS) an der Tel Aviv Universität. Der Historiker Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität in Jerusalem.

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