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Inspiration. Tankred Dorst vor dem märchenhaften Wandbild in seiner Berliner Wohnung.

© HR Schulz/Imago

Zum Tod von Tankred Dorst: Der Zaubermeister

Er hat Weltuntergänge erschaffen, mit einem Lächeln. Zum Tod des Dramatikers Tankred Dorst.

Er hatte eine große Hand. Bei den alten Löwen der Literatur und der Lebenskunst heißt es meist: eine Pranke. Aber Tankred Dorsts Hände waren auch überraschend zart. Sie konnten als Begleitung der Rede einen luftigen Schatten werfen, konnten so modellieren und streicheln. Beim Schreiben, das immer zuerst von Hand geschah, geriet in seiner energisch weichen, fast musikalisch geschwungenen Schrift selbst das Katastrophische noch ins Schweben, war ein Höllensturz noch ein Himmelsflug, nur eben abwärts, weil alle große Dichtung ihren Grund im Abgründigen hat. Im Bodenlosen oder als Ritt auf dem schmelzenden Eis, als Tanz auf Messers Schneide oder auf jenem dünnen Seil mit dem Namen Existenz.

Pathos-Stoffe, Krieg und Frieden, Liebe und Tod, waren ihm vertraut, doch alle Pathetik blieb ihm fern. Er besaß die Kunst, die laut Brecht die größte ist: das Schwere leicht zu machen. Auch in Person. Tankred Dorst hatte die Anmut eines sanften Riesen, er war eine Erscheinung, mit seinem mächtigen, noch im Alter füllig weißen Lockenhaupt und dem massigen, doch graziösen Körper.
Einmal, da war er schon an die achtzig, hatten wir uns nach einem gemeinsamen Theaterbesuch in Mailand nachts in Regen und Nebel verlaufen, fanden das mit Freunden verabredete Lokal nicht mehr und landeten schließlich überhungert im letzten offenen Laden, einem scheußlich lauten Fastfoodschuppen. Freund Tankred ließ sich dort nieder, bestellte eine Pizza und er, der über Weltuntergänge geschrieben und mindestens einen, Wagners „Ring“ in Bayreuth, inszeniert hatte, sagte mit seinem oft hintersinnigen Lächeln nur: „Alles ist gut.“

Das Heil im Unheil suchen

Wahre Literatur, hat Böll einmal notiert, ist untröstlich, aber nicht trostlos. Auch in Dorsts Welt und in seiner Gegenwart lag im Wort Unheil zugleich das Heil, umfing die Tragödie die Schwester Komödie. Eines seiner nicht so berühmten Stücke heißt „Wegen Reichtum geschlossen“. Dazu hatte ihn irgendwo ein absurdes Türschild inspiriert. Das dazu vor zwanzig Jahren erschienene Suhrkamp-Buch zeigt ein Umschlagbild von Johannes Grützke, auf dem Menschen in Geldbündeln baden. Oder von ihnen erschlagen werden. Der Untertitel des in Schuld und Schulden, im Tränenlachen endenden Stücks lautet „Eine metaphysische Komödie“. Johannes Grützkes Tod vor wenigen Tagen hatte Tankred Dorst noch erfahren. In einem Bamberger Barockhaus, das Ursula Ehler-Dorst, seine musische fränkische Ehefrau und so lange beflügelnde Mitarbeiterin, geerbt hat, hängen noch die grandios grotesken Bühnenprospekte für gemeinsame Projekte.

Von Bildern als Inspiration für seine Imagination ist Tankred Dorst oft ausgegangen, davon erzählt etwa die kleine, feine Broschüre der Berliner Festspiele, die 2015 anlässlich einer Feier und Ausstellung im Festspielhaus zu Dorsts 90. Geburtstag erschien. Auch sein letztes Stück, 2016 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen uraufgeführt, hieß so bildhaft wie doppelsinnig „Das Blau in der Wand“. Als er schließlich mit Ursula 2013 von München nach Berlin-Wilmersdorf zog, war in der neuen Wohnung neben dem Schreibtisch vor allem der alte fränkische Apothekerschrank mit den Schubfächern für die geistige Medizin, nämlich den Manuskripten und Notizbüchern zu seinen Stücken, Filmen und Erzählungen, unterzubringen – nachdem ein Teil bereits als Vorlass ans Marbacher Literaturarchiv gegangen war.

Gegenüber dem Schrank hängt eine wohl aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende farbige Holzmalerei. Das anonyme Werk zeigt Menschen als unergründlich koboldhafte, sich verlierende oder findende Reisende durch eine märchenhafte bäurische Welt. Ein Mirakel, naiv raffiniert, spukhaft, melancholisch heiter. Für das Dichterpaar Dorst ein wahres Sinnbild. Dort, in seiner Berliner Wohnung, ist der Schriftsteller, Theater-, Opern- und Filmregisseur am Donnerstag mit 91 Jahren gestorben.

Romantiker mit Realitätssinn

Seine lange Lebensreise hatte kurz vor Weihnachten 1925 in der thüringischen Kleinstadt Oberlind begonnen, wo der Vater eine Maschinenfabrik besaß, die nach 1945 von den Russen enteignet wurde. Früh schon war der junge Tankred von Vorstellungen im Theater der nahegelegenen fränkischen Residenzstadt Coburg fasziniert, musste als Schüler gegen Ende des Krieges aber noch zum Arbeitsdienst, dann zur Wehrmacht. Bereits 1944 geriet er an der Westfront in amerikanische Gefangenschaft, verbrachte gut zwei Jahre in England und in den USA (nahe den Niagarafällen) als Landarbeiter, bis er 1947 zur inzwischen nach Westdeutschland geflohenen Familie zurückkehrte, das Abitur nachholte und ab 1951 in München Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften studierte. Da hatte ihn längst die Lust am Schreiben und Machen erfasst, worauf der von der deutschen Romantik ebenso wie von seinem kriegs- und nachkriegserfahrenen Realitätssinn geprägte Jungautor mit Marionettenstücken begann.

In der Kunst (wie auch in der Liebe) war Dorst ein Glückskind. Denn nach den Puppenspielen wurde sein Erwachsenentheater schnell zum Welttheater. Schon „Die Kurve“, das erste seiner am Ende gut fünfzig Dramen, diese kriminalistische Verkehrsopfer-Moritat von 1960 – Hauptdarsteller zwei Brüder, der eine repariert die verunglückten Autos, der andere hält die Grabreden –, hat Peter Zadek auch fürs Fernsehen verfilmt: mit dem blutjungen Klaus Kinski, mit Helmut Qualtinger und Judy Winter.

Peter Zadek ist seitdem ein Partner gewesen, nicht nur in Bochum, wo Zadek 1972 seine Intendanz mit Dorsts Dramatisierung des damals fast vergessenen Fallada-Romans „Kleiner Mann, was nun?“ eröffnete. Auch ein Jahrzehnt später, als Dorsts Hauptwerk, das grandiose Geschichts- und Mythenepos „Merlin oder Das wüste Land“ anfing, die Theater auf allen Kontinenten zu erobern, war der Ausgangspunkt ein später nicht mehr realisiertes Hamburger Hallen-Projekt, für das Zadek sich von Dorst ein Spektakel gewünscht hatte. Spätestens 1989/90, mit dem Mauerfall und Zusammenbruch des östlichen Imperiums, war Dorsts „Merlin“ dann ein Stück der historischen Stunde. Im Zerbrechen der Rittertafelrunde des legendären Königs Artus und in der apokalyptischen Vision des Magiers Merlin spiegelte sich das Ende der Utopien und die irdische Götterdämmerung – wie sonst nie seit Shakespeare und Wagner.

Alle Theatergrößen inszenierten ihn

Was für Werke, wie viel Zauber auch außer dem „Merlin“! Dorsts Revolutionsstück „Toller“ aus dem Jahr 1968; seine im thüringisch-fränkischen Grenzland angesiedelten deutschen Bürgerdramen bis hin zum wendehalsstarrigen „Herrn Paul“ (Mitte der neunziger Jahre ein Hit am Deutschen Theater Berlin); seine Fantasien über Parzival, den italienischen Dichter D’Annunzio, den abgrundtief bösen Mann „Korbes“, über den unschillerschen spanischen Prinzen Karlos (in München eine Glanzrolle des jungen Ulrich Matthes) oder über Heinrich Heines Exil in „Harrys Kopf“.

Von Mailand bis München, von Berlin bis Moskau, von Paris bis Tokio haben sein Welttheater so viele Große inszeniert: Zadek, Peter Palitzsch und Patrice Chéreau, Hans Neuenfels, Dieter Dorn, Jürgen Flimm, Wilfried Minks, auch Harald Clemen, Jossi Wieler, David Mouchtar-Samorai. Mit Dorsts Drehbuch zu „Rotmord“ hat Zadek schon 1969 eine TV-Vision des virtuellen Sehens entworfen. Und 1983 ist Dorsts eigene Verfilmung seines „Eisenhans“ (mit einer tollen Anfängerin namens Susanne Lothar) der deutsche Beitrag in Cannes gewesen. Dazu gab’s alle Auszeichnungen, außer dem Literaturnobelpreis.

Eine der schönsten späten Liebesgeschichten bleibt übrigens Dorsts 2009 publizierte Erzählung „Glück ist ein vorübergehender Schwächezustand“. Zuletzt hat er noch an einem Stück über den Wuppertaler Fabrikanten Friedrich Engels gearbeitet – auch Dorsts Mutter war eine Fabrikantentochter aus Wuppertal. Das fiel schon schwer, Ursula musste notieren, weil Tankreds große sanfte Hand nach mehreren Stürzen kaum mehr schreiben konnte. Jetzt ist, nach den Gelenken, das Herz gebrochen.

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