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Winrich Hopp leitet das Musikfest Berlin seit 2006

© Lucie Jansch

Zum Start des Musikfests Berlin: "Wer jemandem zuhört, der achtet ihn auch"

An diesem Freitag beginnt das Musikfest Berlin. Ein Gespräch mit Programmleiter Winrich Hopp über die Kunst des Zuhörens, den Komponisten Hector Berlioz und Flugscham im Kulturbetrieb.

Winrich Hopp steht seit 2006 an der Spitze des Musikfest Berlin. 1961 in Berlin geboren, studierte er Philosophie und Musikwissenschaft. Hopp leitet auch die Musica Viva München. Infos zum Musikfest Berlin unter www.berliner-festspiele.de.

Herr Hopp, im Mittelpunkt des heute beginnenden „Musikfest Berlin“ steht der Komponist Hector Berlioz. Ist es nicht schöner, Künstlern zum Geburtstag zu gratulieren als zum Todestag? 2019 wäre Jacques Offenbach 200 geworden. Aber Sie feiern lieber das Ableben von Monsieur Berlioz vor 150 Jahren…
Ich nutze dieses Datum, um etwas für das Weiterleben seiner Musik zu tun! Wir eröffnen das Festival mit der Oper „Benvenuto Cellini“, die in Berlin erst zweimal, 1896 und 2003 aufgeführt wurde. Berlioz markiert in der Orchestermusik den Aufbruch in die Moderne, nicht zuletzt durch seine phänomenale Instrumentationslehre, die er auf Empfehlung Alexander von Humboldts dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. widmete. Darin definiert er das Orchester als Maschine zur Herstellung von Klängen und als Pool von Mitwirkenden, aus dem heraus verschiedenste Formen von Ensembles generiert werden können. Zum Beispiel „30 Pianofortes, sechs Glöckcheninstrumente, zwölf Paare antiker Zimbeln, sechs Triangel und vier Halbmonde“. Berlioz formuliert hier eine Vorahnung dessen, was sich heute mit Elektronik alles realisieren lässt. Wir machen also keine Trauerveranstaltung, sondern feiern einen Visionär.

Als Denker ist Berlioz zweifellos einer der interessantesten Komponisten des 19. Jahrhunderts. Rein handwerklich aber ist er nicht besonders gut gewesen…
Das ist ein Urteil aus der deutschen Musikkultur. John Eliot Gardiner und François Xavier Roth, um nur zwei Berlioz-Kenner des Festivals zu nennen, haben hier eine andere Meinung. Für Richard Strauss war Berlioz Schöpfer des modernen Orchesters – er meinte den Komponisten, nicht den Denker – und Wagner dessen Vollender. Bei Berlioz ist ungleich mehr schamlos ins Werk gesetzte Vitalität zu finden. Durchaus experimentell und riskant, bisweilen auch einsturzgefährdet. Aber davon handelt ja der Benvenuto, wenn dem Künstler beim Guss der Perseus-Statue der glühende Ofen um die Ohren fliegt. Das muss historisch eine ziemliche Sauerei gewesen sein...

Berlioz hat mit seiner sinfonischen Musik auch gegen die Übermacht des Musiktheaters in Frankreich gekämpft. Beim diesjährigen Musikfest aber gibt es gleich drei Opern in konzertanter Form.
Den Benvenuto gibt es halbszenisch. Dvoraks „Rusalka“, Strauss’ „Frau ohne Schatten“ und die Ausschnitte aus Berlioz’ „Trojanern“ sind konzertant. Im Orchestergraben ist das Orchester, die „Maschine à la Berlioz“, ja versteckt, im Konzert wird der Maschinenraum nach oben geklappt. Man sieht die „Maschine“. Ich glaube, Opern halbszenisch zu zeigen, ein Bewusstsein und eine Sensibilität dafür auszubilden, dass die Aufführung von Musik selbst schon ein szenisches Geschehen ist, da ist Zukunft drin. Das braucht aber Zeit, um sich zu entwickeln.

Und wie passt eine Aufführung des japanischen No-Theaters in Ihr Programm?
„Passen“ klingt wie zwangsintegriert. Ich mag es, wenn im Festivalprogramm scheinbare Solitäre auftreten, deren Erlebnis dann auf die Gesamtatmosphäre abstrahlt. In jedem Fall ist es ein musiktheatrales Ereignis, und zwar vollszenisch. Und wer weiß, vielleicht wird uns dadurch auch „unsere“ Oper auf neue Weise fremd. Ich setzte beim Erlebnis von Kunst eher auf das Nichtverstehen als auf das Alleswissen.

Sie zeigen die restaurierte Fassung des Stummfilms „La Roue“ von Abel Gance, die sieben Stunden dauert. Geht das nicht über die Aufnahmefähigkeit selbst des interessiertesten Publikums hinaus?
Wir haben drei Pausen. Also eine viersätzige symphonische Form. Auf der Berlinale stellen sich die Besucher solche Marathonprogramme sogar selbst zusammen. Für Abel Gance war der Film eine Fortsetzung der sinfonischen Musik mit den Mitteln des Lichts.

Je weiter das Bildungsbürgertum ausstirbt, desto nachdrücklicher wird von popkulturell geprägten Menschen die Frage gestellt: Warum ist klassische Musik relevant?
Ich weiß nicht, ob das Bildungsbürgertum ausstirbt. Es war auch „früher“ verdammt schwer, jemanden zu finden, der Goethes Faust II tatsächlich gelesen hatte. Das Wort „klassische Musik“ ist sowieso eine heruntergewirtschaftete Vokabel. Die sollte man, wie auch einige zu Tode gerockte Klassiker, eine Zeit lang zur Erholung in die Ecke stellen. Und was ist ein „popkulturell geprägter Mensch“? Vielleicht haben wir ja ein gebildetes „Popbürgertum“, und darunter sind nicht wenige, die Goethe lesen und Beethoven hören. Ich selbst bin über die Pop- und Jazzmusik in die Sphäre der abendländischen Kunstmusik gelangt. Bin ich also nun ein klassikkulturell geprägter Popbildungsbürger? Das Musikfest Berlin ist ein Festival des Zuhörens. Das Zuhören ist eine Verhaltensform und eine Tätigkeit. Es setzt voraus, dass etwas für das Zuhören geschaffen worden ist.

Zukunftsmusiker. Der französische Komponist Hector Berlioz war seiner Zeit voraus.
Zukunftsmusiker. Der französische Komponist Hector Berlioz war seiner Zeit voraus.

© Bibliothèque Nationale de France

Macht Klassik den Menschen besser?
Wer im Konzert sitzt, kann nicht streiten. Das ist doch schon mal ein recht angenehmer Zustand. Dass man sich mit dem Kauf eines Tickets bereiterklärt, jemandem zuzuhören, ist ein Akt der Humanität. Im Konzertsaal treffen sich Menschen, denen es wichtig ist, Erfahrungen mit ihren Sinnen zu machen. Im Beifall oder Buh bekundet sich dann das Plebiszit.

Zuhören als Achtsamkeitsübung?
Ja! Bzw. nein! Das ist kein Probehandeln, sondern Ernstfall! Wer beschließt, jemandem zuzuhören, der achtet ihn auch. Man nimmt ihn ernst, ohne darum sofort Stirnfalten zu bekommen. Man kann auch heiter dabei sein.

Von Seiten Ihrer Geldgeberin, der Kulturstaatsministerin, wird erwartet, dass Sie ein repräsentatives Festival machen. Ihr Herzensanliegen aber ist es, Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts immer wieder neu ins Gespräch zu bringen und außerdem aktuelle Kompositionen vorzustellen. Wie lässt sich das vereinbaren?
Mir gegenüber hat Frau Grütters so etwas nicht gesagt. Was sie von mir wohl erwartet, ist, dass ich mit den in Berlin ansässigen Musikschaffenden – und das ist ja ein Sachverstand von großer Autorität, der sich da zusammenballt – zusammenarbeite und dabei Innovatives zustande bringe. Natürlich zusammen mit unseren internationalen Gästen. Die Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts? Klar, die müssen ins Programm. Allerdings versuche ich auch, allmählich im 21. Jahrhundert anzukommen. Ebenso gerne möchte ich zurück ins 16., 15. und 14. Jahrhundert. Und wie dieses Jahr nach Japan. Nun kommt ja das Bildwerk von Gerhard Richter nach Berlin. Mit Olga Neuwirth, Louis Andriessen und Gerard Grisey im Programm liege ich da also nicht falsch.

Das Schlagwort von der Flugscham ist gerade omnipräsent. Klassikinterpreten sind besonders viel unterwegs. Wäre es nicht sinnvoll, wenn deren C02-Ausstoß kompensiert würde? Vom Veranstalter, vom Künstler, oder soll man das auf die Eintrittspreise draufschlagen?
Schämen müssen wir uns beim Musikfest Berlin nicht. Wer Gäste haben will, muss sie auch an- und abreisen lassen. Die Belastung von Eintrittspreisen ist eine Ablassregelung für Besserverdienende. Aus dem Klimaproblem kann sich aber keiner rauskaufen. Wäre dem Weltklima signifikant geholfen, wenn das Musikfest Berlin nicht mehr stattfände, sollte man es sofort abschaffen. Aber es sind gerade mal 7 Orchester, die mit dem Flieger kommen. Ich selbst „diesel“ nicht, sondern trete in die Pedale, ohne E-Antrieb. Würde man den Dresscode bei Meetings, Eröffnungskonzerten und Empfängen ändern, könnte noch häufiger Rad gefahren werden. Auch bei Regen. Am besten Sie befragen Ökologen, Technologen und Ökonomen; nicht in diesen wichtigen Fragen dilettierende Leute wie mich.

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