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Der Herbst ist da, die Jacken kommen aus dem Kleiderschrank.

© dpa

Zum Ende des Sommers: Entdeckungen aus der Jackentasche

Der Sommer geht, und mit dem Herbst kommen die Jacken aus dem Schrank. Ist doch super - in deren Taschen findet man so manche Erinnerung.

Herbst ist, wenn einem das Wort Raureif wieder einfällt, auch wenn der Wetterbericht die Rückkehr des Spätsommers in Aussicht stellt. Herbst ist, wenn die Gastherme gewartet werden muss, dringend! Herbst ist vor allem, wenn die dicke Jacke aus dem Schrank kommt – und in ihren Taschen der letzte Winter steckt.

Kaum zu glauben, was da alles seinen Sommerschlaf schlief. Eine erste schnelle Jackentaschen-Inventur fördert Kupfermünzen und kleine Scheine zutage, Taschentücher, Einkaufswagen-Chips, Hustenbonbons, Busfahrkarten, einen Lippenstift, ein Fahrradventil und ein verloren geglaubtes Armband. Tempi passati.

Ach, das Konzertticket für den Kammermusiksaal: War das nicht dieser tolle Abend, an dem zwei Schlagzeuger ein gutes Dutzend Instrumente traktierten – und dabei alles auswendig spielten? Oder hier, der Parkschein vom vorletzten Berlinale-Tag, als man verschlafen hatte und beinahe nicht mehr rechtzeitig ins Kino kam.

Jackentaschen sind Zeitkapseln. Selbst in den Krümeln und Fusseln, die sich so gerne zu winzigen Wollmäusen formen, materialisiert sich die Vergangenheit. Wir Menschen sind vergesslich, aber das Vergessene wartet geduldig auf seine Wiederentdeckung. Schöner Zufall, wenn es sich findet. Und immer wenn die Jahreszeit wechselt, hat der Zufall plötzlich Methode.

Die Tasche ist Mülleimer und Schatztruhe

Überall ist Wunderland. „Bei meiner Tante im Strumpfenband ... und irgendwo daneben“, dichtete Joachim Ringelnatz. Die Jackentasche ist auch so ein Strumpfenband. Und es ist wie beim Gang auf den Speicher mit seinen verstaubten Kisten, wie beim Wühlen in der Handtasche: Der Mensch stöbert gern, kramt herum, ohne zu wissen, was sich womöglich findet. Das Leben ist zielgerichtet genug.

Deshalb die Ode an die Jackentasche, diesem kleinsten mobilen (anders als die Handtasche zudem genderneutralen) Überlebensarchiv mit seiner Doppelfunktion als Mülleimer und Schatztruhe. Und als Proustsche Madeleine, die Erinnerungen triggert.

Kinder werfen ihr Spielzeug gern mal weit weg, um es jubelnd wieder herzuholen. Sigmund Freud nannte es das Fort-Da-Spiel: die Anverwandlung des Triebverzichts, bis ein Lustgewinn daraus wird. Etwas verschwindet, etwas kehrt wieder, ob Mama oder irgendein Kram. Allemal ist man verdutzt, wundert und freut sich. Und sei es über das Bonbon in der Tasche. Die Zeit rast, hier harrt sie aus, klebt einfach fest.

Der Sommer war groß? Der letzte Winter war groß. Auch den nächsten werden wir eines Tages vergessen haben. Bis er uns wieder einfällt, mit der Jacke im Schrank.

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