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Ernst Tugendhat.

© dpa/Bernd Weißbrod

Zum 90. Geburtstag von Ernst Tugendhat: Der Mensch ist mehr als bloß ein Egoist

Der redliche Intellektuelle: Engagiert in der Friedensbewegung, ist der Berliner Philosoph überzeugt vom Prinzip der Rücksichtnahme.

Die Hand auf die Stirn gelegt, schlohweiße Haare darüber, starke dunkle Augenbrauen darunter, ein kritischer Blick, ein verzweifeltes Schütteln des Kopfes und der alles vernichtende Satz: „Das verstehe ich nicht.“ Bei diesem Gestus wissen stets alle Beteiligten: Was der Mann nicht versteht, ist überhaupt nicht zu verstehen. Endlich einer, der den hoh(l)en Ton und Nimbus der Geistesgröße(n) in der deutschen Philosophie aufs Tatsächliche reduziert. Dabei macht gerade Ernst Tugendhat in seinen Arbeiten exemplarisch klar, was den zentralen Stellenwert der Philosophie im Geistesleben rechtfertigt. Es ist „die Idee, das menschliche Leben im Ganzen auf Wahrheit auszurichten, d.h. die Idee eines Lebens in kritischer Verantwortlichkeit“.

Tugendhats Berühmtheit und Einfluss als einer der meistgelesenen deutschsprachigen lebenden Philosophen beruht vor allem auf seinem Stil des Philosophierens. Tugendhat ist einer der Wenigen, denen es gelang, die ursprünglich von deutschsprachigen Philosophen mitbegründete sogenannte analytische Philosophie, die nach dem letzten Weltkrieg in den angelsächsischen Ländern zur dominanten Richtung avancierte, wieder im Nachkriegsdeutschland zu beheimaten. Diese Wiederanknüpfung konnte ihm in besonders origineller Weise gelingen, weil er – wie kein zweiter – traditionelle kontinentale Philosophie mit moderner analytischer Philosophie zu verbinden wusste. Die Motive dazu liegen zum Teil schon in seiner Biografie begründet.

Tugendhat, der heute 90 Jahre alt wird, verbrachte seine ersten Lebensjahre in Brünn (dem heutigen Brno in der Tschechischen Republik). 1938 emigrierte die jüdische Familie über die Schweiz nach Venezuela. Mit 15 Jahren entdeckte er die Philosophie und seine Begeisterung ausgerechnet für Martin Heidegger – die Mutter gab ihm „Sein und Zeit“ zu lesen. Nach dem Studium zunächst der klassische Philologie in Stanford ging Ernst Tugendhat 1949 nach Freiburg, um bei Heidegger zu hören.

Ausgerechnet über Heidegger musste er promovieren

Dass dies für einen jüdischen Emigranten ein fragwürdiger Schritt war, wurde ihm erst viel später bewusst. Promotion und Habilitation standen unter dem Einfluss und in der Auseinandersetzung mit Heidegger. Ein Aufenthalt 1966 in den USA leitete Tugendhats „sprachanalytische Wende“ ein. Seine in den anschließenden Jahren an der Heidelberger Fakultät gehaltenen „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ (publiziert 1976) formulieren das neue Programm. Die für die antike Philosophie maßgebliche Orientierung am Sein und die für die neuzeitliche Philosophie maßgebliche Orientierung am Bewusstsein gehören überwunden. Die Sprachanalyse transformiert die traditionellen Probleme von Gegenstand und Erkenntnis in die Frage nach dem Verstehen sprachlicher Ausdrücke.

In Auseinandersetzung mit seinen damaligen Heidelberger Kollegen, die stark in der Tradition des deutschen Idealismus verwurzelt waren, wandte Tugendhat anschließend die Sprachanalyse an zur Klärung von „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“ (1979). Am von Jürgen Habermas geleiteten Starnberger Max-Planck-Institut verlagerte er von 1975 bis 1980 sein Interesse auf die Moralphilosophie. Die Beschäftigung mit Ethik und Politik wurden erst recht der Schwerpunkt seiner Tätigkeit in seinen 22 Berliner Jahren an der FU Berlin bis 1992. Dabei ging es ihm in ständigen Suchbewegungen um die Begründung einer Ethik in der Moderne, das heißt in einer Zeit, in der religiöse und metaphysische Traditionen keine Gültigkeit mehr haben.

Moral erwächst aus Rücksicht gegenüber allen anderen als Gleichen

Letztlich müsse, so seine Position, jegliches moralisches Sollen auf ein Wollen zurückgeführt werden. Freilich nicht auf irgendeines, das wir jederzeit willkürlich aufgeben können, sondern auf ein sozial konstituiertes Selbstwertgefühl der Individuen. Moral erwächst, wie er 1993 in „Vorlesungen über Ethik“ darlegte, zwar aus unserem Eigeninteresse und zielt doch weit darüber hinaus auf die Rücksicht gegenüber allen anderen als Gleichen. Dass dies alles keineswegs nur Kopfgeburten sind, belegte er durch sein Engagement in der Friedensbewegung, mit dem er auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde („Ethik und Politik“, 1992).

Dass nach seiner Pensionierung verfasste Buch „Egozentrizität und Mystik“ beschäftigt sich mit der Fähigkeit zur „Selbstrelativierung“ unserer Ichbezogenheit. In einer „diesseitigen Mystik“ gehe es darum, sich im Vergleich mit den anderen nicht gar so wichtig und am Ende gar nicht mehr wichtig zu nehmen. In seiner letzten Aufsatzsammlung „Anthropologie statt Metaphysik“ (2010) findet sich ein zentraler Aufsatz über einen ihn persönlich besonders kennzeichnenden Wert: die intellektuelle Redlichkeit.

Intellektuelle Redlichkeit, das gibt Tugendhat uns auf den Weg

Irritierbarkeit durch Erfahrungen und Argumente, die das übliche Maß weit übersteigen, zeichnen Tugendhats Geisteshaltung aus. In etlichen „Retraktionen“, in denen er seine frühere Auffassungen korrigierte, hat er immer wieder vorgeführt, was es bedeutet, sich Rechenschaft abzulegen, ob man die richtige Antwort gefunden hat. Um intellektuell redlich zu sein, darf man seine Meinungen und Handlungen nicht für begründeter halten als sie sind. Das ist das Ideal, das Tugendhat uns allen mit auf den Weg gibt.

Stefan Gosepath

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