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Das Rettungsmittel kann nur Arbeit sein: Siegfried Unseld 2000 in seinem Haus, links die es, rechts die BS

© Christina Höhn/Suhrkamp Verlag

Zum 70. Geburtstag des Suhrkamp Verlags: Ein ganzes Jahrhundert, erklärt in nur zwei Büchern

Der Suhrkamp Verlag feiert 70. Geburtstag - und veröffentlicht Siegfried Unselds Reiseberichte und Essays des Verlagsgründers Peter Suhrkamp.

Es passt zum Suhrkamp Verlag dieser Tage, dass er sein 70-jähriges Gründungsjubiläum eher still begeht. Warum einen großen, anstrengenden Aufschlag machen, da doch jetzt endlich, endlich einmal Ruhe eingekehrt ist, nach dem Tod von Siegfried Unseld 2002, dem Wechsel von Frankfurt am Main nach Berlin 2010, dem jahrelang sich hinziehenden, existenzbedrohenden Gesellschafterstreit, dem Umzug innerhalb Berlins von der Pappelallee in das neue Haus am Rosa-Luxemburg-Platz?

Wobei diese Ruhe bei Suhrkamp sowieso eine stets relative ist. Man denke an die Aufregungen im Zusammenhang mit der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke im vergangenen Herbst. Oder an die Debatten, die Uwe Tellkamp seit Jahren mit seinen politischen Ansichten auslöst, mit seiner Nähe zu den Rechten. Diese Debatten drehen sich auch darum, ob der Nachfolger von Tellkamps Erfolgsroman „Der Turm“ überhaupt noch bei Suhrkamp erscheinen kann und darf.

Dazu kommt, dass der Verlag das Domizil am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin- Mitte zwar schon vor knapp einem Jahr bezogen hat und darin arbeitet, das Haus aber immer noch nicht ganz fertig ist und bislang nicht offiziell eingeweiht wurde. Die Coronakrise dürfte das Ganze zusätzlich verzögert haben, und so eilt auch die Inbetriebnahme von Restaurant und Café im Erdgeschoss des Gebäudes nicht.

Natürlich ist sich der Verlag seines Jubiläums sehr bewusst. Jubiläen, ihre erfolgreiche Vermarktung, gehören wie selbstverständlich zur Verlagsarbeit. Erinnert sei da unter vielen beispielsweise an das „Weiße Programm im 33. Jahr Suhrkamp“, an die 50-Jahre-Jubiläumsausgabe der Bibliothek Suhrkamp, an die Neuausgabe von Hermann Lenz' Weltkriegsroman „Neue Zeit“ anlässlich des 100. Geburtstags dieses Schriftstellers 2013.

Zum 70. Geburtstag schenkt sich der Verlag nun zwei Bücher, die beide noch von dem Ende April dieses Jahres verstorbenen Cheflektor Raimund Fellinger herausgegeben wurden. Es sind dies Bücher, die dem Anlass entsprechend auf seine Geschichte verweisen. Ihre Autoren sind die Verleger, die den Suhrkamp Verlag zu einer bundesrepublikanischen Legende gemacht haben. Zu einer Institution bis heute, zum Maßstab für hochwertige Literatur, zur ersten Adresse für geisteswissenschaftliche Publikationen, zu dem Ort, von dem aus die politischen und gesellschaftlichen Debatten der sechziger Jahre bis in die Gegenwart ausgingen: Verlagsgründer Peter Suhrkamp und sein Nachfolger Siegfried Unseld.

„Über das Verhalten in Gefahr“ heißt das eine Buch. Es versammelt die Essays von Peter Suhrkamp, angefangen bei den „Gedanken“, die dieser sich 1919 nach einer Paul-Claudel-Aufführung in den Münchener Kammerspielen gemacht hat, bis hin zu zwei Reden von 1956 und 1957 zur „Aufgabe der Literatur“ im NDR und in der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung.

In dem anderen Band finden sich „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld, der den Verlag, nachdem er 1952 dort angefangen hatte zu arbeiten, 1959 nach dem Tod von Peter Suhrkamp übernahm. Unseld erwähnt seinen Vorgänger gleich in den ersten Berichten über eine Reise nach Ost-Berlin zur Brecht-Witwe und weiteren Brecht-Erben und kurz darauf zu Max Frisch in die Schweiz. Er plant ein Gedenken an seinen Vorgänger auf der Frankfurter Buchmesse und ein Heft „In memoriam Peter Suhrkamp“ mit Bildern und Nachrufen. Was wiederum, wie er notiert, von Frisch „begrüßt“ wurde: „Er möchte einen Text dazu beisteuern.“

Beide Bücher ergänzen sich gut, nicht nur weil sie chronologisch aufeinander aufbauen. Mit dem ersten Text von Suhrkamp und dem letzten Bericht von Unseld 1998 über die Beerdigung von eben jenem Hermann Lenz in München umfassen sie praktisch das gesamte 20. Jahrhundert. Peter Suhrkamp, der 1891 in der Nähe von Oldenburg geboren wurde und den Ersten Weltkrieg in Gänze als Soldat mitmachte, hatte zunächst versucht, den S. Fischer Verlag, dessen Vorstandsmitglied er 1933 geworden und wo er für die „Neue Rundschau“ verantwortlich war, gegen die NS-Propaganda und NS-Pressionen zu verteidigen, ihn durch diese Zeit zu retten. Was ihm nur unzureichend gelang. Immerhin  bewahrte ihn seine Bibliothek davor, unter den Nazis „auch in den deutschen Sumpf zu geraten“, wie es in einem der Essays heißt, „und zwar die Begegnung mit modernen freien Geistern aus allen Ländern: mit Amerikanern, Chinesen, Engländern, Franzosen, Italienern, Indern, Niederländern, Spaniern, Russen aller Anschauungen (...); Begegnungen, wie ich sie auf Reisen kaum gehabt hätte."

Der Verlag wurde schließlich gesplittet, nachdem Fischer-Verleger Gottfried Bermann Fischer ins Exil gegangen war, und musste sich umbenennen, erst in Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer, dann Suhrkamp Verlag. Im April 1944 schließlich verhaftete die Gestapo Peter Suhrkamp wegen angeblichen Hoch- und Landesverrats und schickte ihn unter anderem in die Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen.

Nach dem Krieg und der Rückkehr Fischers kam es zum Streit zwischen den Verlegern. Suhrkamp gründete am 1. Juli 1950 auf Anraten Hermann Hesses endgültig seinen eigenen Verlag, in den ihm unter anderem Hesse, Bertolt Brecht, Max Frisch und George Bernhard Shaw folgten. (Vor allem die Bücher von Brecht und Hesse bringen dem Verlag noch heute entscheidende Umsätze).

Ein weiterer Grundstein war die deutsche Marcel-Proust-Ausgabe, um deren Rechte sich Suhrkamp noch als S. Fischer Verleger bemüht hatte: „Im Februar ’50 unterzeichnete ich den Vertrag mit Gallimard. Und dann geschah etwas, was die Situation vollends verwirrte: Am 26. April 1950 gab ich den S. Fischer Verlag zurück; ich stand im Moment ohne Verlag da. Gallimard gestand mir trotzdem die Rechte zu, weil ich den Vertrag unterschrieb.“

Allein der Proust-Essay verdeutlicht, wie tief Suhrkamp in die Literatur eingetaucht, wie sie ihm Mittel der Erkenntnis und des Überlebens geworden war: „Ich brauchte Proust für mein geistiges Leben. Was ich davon erwartete, hätte ich nicht zu sagen gewusst. Es war, als hätte ich an dem Duft einer Blume gerochen und könnte danach nicht mehr darauf verzichten. Der Duft einer Blume kann neue Welten bedeuten, die wir noch kaum ahnten."

Der Peter-Suhrkamp-Band dokumentiert schön die Entwicklung des Verlagsgründers eben hin zum Verleger. Seine Überzeugung war, dass jeder Künstler nicht nur ein kreativer, schöpferischer Mensch sei, sondern auch Handwerker und Kaufmann, ihm gerade deshalb aber „kaufmännische Mittler" zur Seite stehen müssten. Und er gesteht, Autoren wie Gerhard Hauptmann und Hermann Hesse hätten ihn „wirklich so intensiv und so beschäftigt wie eine Liebe."

Was wiederum seinem Nachfolger genauso ging – bis zu den Tagen im Mai 1971, als Siegfried Unseld nach New York reist, um den Geburtstag von Max Frisch zu feiern, auch mit einer von ihm ausgerichteten und bezahlten Party. Frisch überhäuft seinen Verleger mit Vorwürfen, er schenke ihm keine Aufmerksamkeit, kümmere sich nicht um ihn und straft Unseld mit Missachtung und Schweigen. „Ich hatte bis zu diesem Datum immer darauf gebaut“, schreibt Unseld, „dass es auch Freundschaft in der Beziehung zwischen Autor und Verleger geben könne…" Und muss erkennen: „Das Rettungsmittel kann nicht Liebe sein, sondern nur Arbeit.“

Nun mag Unseld davon wieder abgekommen sein, wenn man seine Reiseberichte nach 1971 liest. Ob mit Bohumil Hrabal in Prag, mit Amos Oz im israelischen Arad, mit Samuel Beckett in Paris – bei all diesen ja regelmäßig stattfindenden Besuchen schwingen freundschaftliche Gefühle mit, die über die vielbeschworene Autorenpflege hinausgehen. Was vielleicht damit zu tun hat, dass diese Autoren nicht aus dem deutschsprachigen Raum kamen, es Feindschaften wie die zwischen Peter Handke und Thomas Bernhard nicht gab, keine zu Misstrauen verleitenden Konkurrenzsituationen.

Trotzdem demonstrieren die Reiseberichte natürlich bevorzugt, wie umtriebig, ja, rastlos dieser Verleger bei der Arbeit war.  Unseld spricht über Manuskripte und neue Buchausgaben, handelt Honorare aus, weist sie an, ist von der Notwendigkeit einer eigenen Agentur in den USA überzeugt. Oder stellt nach einem Besuch bei Handke in Chaville beruhigt fest: „Wir haben in Peter Handke einen produktiven Schriftsteller – und von seinem Rang leider nur sehr wenige.“

Immer wieder ist Unseld auf der Suche nach neuen Stimmen, lässt sich auf seinen Reisen von Autoren und anderen Bekannten aus dem Literaturbetrieb der jeweiligen Länder Namen nennen. 1961 hört er in den USA von einer Zeitschrift, die Arthur Miller und Saul Bellow herausgeben: „Es ist festzustellen, wer Saul Bellow in Deutschland veröffentlicht“. 1969 beratschlagt er mit dem Übersetzer und Lateinamerika-Kenner Curt Meyer-Clason die Idee „einer lateinamerikanischen Bibliothek“; Meyer-Clason legt ihm „Versuche“ mit Julio Cortázar und Juan Carlos Onetti nahe, auch weil ein Autor wie Gabriel García Márquez „an uns vorbeigegangen ist“ (so wie Bellow, wie überhaupt viele große US–Autoren). Oder er bekommt 1989 von Amos Oz Namen, „um die wir uns unbedingt kümmern sollten“: A.B. Jehoschua, Aharon Appelfeld, Jehoschua Kenaz und Shulamith Harfen.

Unseld reist nach Japan, Mexiko und in die USA, nach Krakau und Moskau, und bei so einigem, das er hier diktiert oder geschrieben hat, handelt es sich um mäßig aufregendes Verlagskleinklein. Manche seiner Beschreibungen jedoch sind großartig. Diese lesen sich wie literarische Porträts, auch Landesporträts: so seine Besuche bei Beckett in Paris („Ich glaube, Beckett ist der einzige Nobelpreisträger, der als Transportmittel die Metro benutzt“), seine Israel-Trips. Auch die Beerdigungen von Hermann Hesse oder Helene Weigel in Ost-Berlin haben etwas dramatisch Rührendes. Oder die Skizzen der Wohnungen von Elsa Morante in Rom oder Djuna Barnes in New York.

1500 Reiseberichte soll Siegfried Unseld geschrieben haben, 35 sind hier versammelt. Obwohl Raimund Fellinger in einem Nachwort geschrieben hat, naturgemäß keinen repräsentativen Anspruch erheben zu wollen, zumal viele Berichte sich in den ausführlichen Briefwechseln des Verlegers mit Handke, Johnson, Bernhard oder Koeppen finden, ist diese Auswahl schon sehr gezielt getroffen worden.

Die Verlagspolitik schimmert mit durch. Dazu gehört die Internationalität, die der Suhrkamp Verlag für sich beansprucht; auch die beiden ausführlichen Israel-Berichte haben ihre Bewandtnis, nicht zuletzt erwarb der Verlag 1990 den Jüdischen Verlag. Auffällig überdies: das Fehlen von Begegnungen mit dem 2004 im Unfrieden geschiedenen Martin Walser. Dessen Name fällt zwar häufig und nur wohlwollend. Walser war schließlich nicht nur Autor von Unseld, sondern Vertrauter, ein Freund gar. Doch gibt es, anders als im Fall von Peter Handke oder Thomas Bernhard, keinen ausführlichen Report über ein Treffen Unselds mit Walser beispielsweise am Bodensee. Zufall?

Doch weist selbst so eine Lücke noch auf die Zerreißproben hin, die der Verlag in den 70 Jahren seines Bestehens häufig auszuhalten hatte; die Walser-Verwerfungen stehen da beispielhaft von der Paulskirchenrede über den „Tod eines Kritikers“ bis zu dem mit Aplomb vollzogenen Wechsel zu Rowohlt.

Das einstige Wirken von Peter Suhrkamp und von Siegfried Unseld ist jedenfalls das Fundament, auf dem der Verlag weiter baut. Mit dem Verweis auf deren beider künstlerischer und intellektueller Neigungen, mit der Fortführung ihrer ökonomischen Umsicht und im Geist ihres Beharrungsvermögens, ihrer Standfestigkeit hat man bei Suhrkamp unter Ulla Berkéwicz und nun Jonathan Landgrebe die Turbulenzen der vergangenen fast zwanzig Jahre überstanden. Man könnte meinen, eine gewisse Unruhe lässt den Suhrkamp Verlag erst recht produktiv werden.

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