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Aristokrat, Industrieller, Revolutionär, Weltbürger. Walther Rathenau im April 1922, zwei Monate vor seiner Ermordung.

© imago/United Archives Internatio

Zum 150. Geburtstag von Walther Rathenau: Die Zerrissenheit eines Zeitalters

Vor 150 Jahren wurde Walther Rathenau geboren. Erinnerung an einen Politiker, der von Rechtsradikalen ermordet wurde - und in seinen Widersprüchen eine Epoche am Scheideweg symbolisierte.

Seinen 50. Geburtstag beging Walther Rathenau mitten im Ersten Weltkrieg. Er feierte ihn 1917 so pompös, wie es einem Mann zukam, der AEG-Präsident, Organisator der deutschen Kriegsrohstoffversorgung, politischer Berater und vielgelesener Zeitkritiker zugleich war. Keine fünf Jahre später wurde Rathenau von rechtsradikalen Vorläufern der NS-Bewegung ermordet, nachdem er erst als Reichsminister mit seiner als Erfüllungspolitik geschmähten Verhandlungsstrategie die Rückkehr Deutschlands in die Völkergemeinschaft geebnet hatte.

Seinen 100. Geburtstag würdigte die geteilte deutsche Öffentlichkeit 1967 in gemeinsamem Respekt vor der Lebensleistung eines jüdischen Patrioten, der zum Märtyrer der kurzlebigen Weimarer Republik geworden war. Im Osten galt er als Pionier der friedlichen Koexistenz, der mit dem Rapallo-Vertrag für die Anerkennung Sowjetrusslands gesorgt habe, und im Westen als Kronzeuge des demokratischen Widerstands gegen totalitäre Verführung. Zahlreiche Straßennamen in beiden Teilen Deutschlands erinnern bis heute an diese Würdigungskonkurrenz.

Und 2017? Zu seinem 150. Geburtstag am 29. September ist der „Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit“, wie Ernst Schulin einmal schrieb, weit in den Schatten der Geschichte zurückgetreten. Keine Politikergedenkstiftung erinnert an den Staatsmann, der nach seinem Tod zusammen mit Matthias Erzberger und Friedrich Ebert als Held der Republik verehrt worden war; kein musealer Erinnerungsort wahrt sein Andenken. Rathenaus Zeitanalysen und Zukunftsentwürfe „Zur Kritik der Zeit“ oder „Von kommenden Dingen“ haben keine Leser mehr, und die vor dem Abschluss stehende Gesamtausgabe seiner Schriften trifft nur noch in der Fachwelt auf Resonanz.

Hat uns Walther Rathenau nichts mehr zu sagen?

Die von Rathenau selbst erbaute Villa in der Berliner Koenigsallee befindet sich unzugänglich in privatem Besitz. Das kleine Hohenzollernschlösschen Freienwalde in der Mark wiederum, das Rathenau vor dem Verfall gerettet und als Sommersitz, aber auch als ästhetisches Programm gegen den protzenden Wilhelminismus genutzt hatte und das nach dem Fall der Mauer 25 Jahre lang eine Rathenau-Gedenkstätte beherbergte – es wurde skandalöserweise ausgerechnet in diesem Jahr geschlossen.

Hat uns Walther Rathenau nichts mehr zu sagen? Gegen diese Auffassung spricht nicht nur die zeitlose Gültigkeit seiner auf unternehmerischem Gebiet erworbenen Verhandlungsratschläge. „Unfähige Menschen erkennst du daran, dass sie ihre Nachfolger zu unterdrücken suchen“, sagte er, und: „Setze stets voraus, dein Gegner sei der Gescheitere“. Erinnert sei auch an Rathenaus manchmal geradezu unheimliche Gabe zur prophetischen Vorhersage, die ihn Sätze von bis heute eindrucksvoller Hellsichtigkeit äußern ließ. Schon als die Welt um ihn noch im Glanz der wilhelminischen Epoche schwelgte, veröffentlichte Rathenau düstere Warnungen vor der achtlosen Unbekümmertheit einer Welt am Abgrund.

Je länger der 1914 ausgebrochene Weltkrieg andauerte, desto klarsichtiger sah Rathenau seine grundstürzenden Folgen voraus. „Die Krise, die wir erleben, ist die soziale Revolution“, sie ist „der Weltbrand des europäischen Sozialgebäudes, das nie wieder erstehen wird“. Nach Kriegsende wiederum prophezeite er Deutschland die Entstehung eines sowjetrussischen Satellitenstaates als Revolution von oben: „Der Bolschewismus wird bei uns methodisch und organisiert sein, wie es das Kaiserreich war. (...) Deshalb wird der preußische Bolschewismus in ganz anderer Weise fürchterlich sein als der russische.“

Seine Prophezeiungen waren genauso zutreffend wie krachend falsch

Aristokrat, Industrieller, Revolutionär, Weltbürger. Walther Rathenau im April 1922, zwei Monate vor seiner Ermordung.
Aristokrat, Industrieller, Revolutionär, Weltbürger. Walther Rathenau im April 1922, zwei Monate vor seiner Ermordung.

© imago/United Archives Internatio

Bekannter noch als diese Vision ist das Mitteleuropa-Konzept, mit dem Rathenau 1913 den Weg zur Europäischen Einigung vorzeichnete. „Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation,“ so Rathenau. Doch die erstaunliche Aktualität seiner Auffassungen erweist sich bei näherem Zusehen als vordergründig, Rathenaus vorschnelle Vereinnahmung häufig als schief. Sein Versuch, das Friedensdiktat von Versailles durch das Bemühen um Vertragserfüllung zu mildern, verschärfte die Wirtschaftskrise der jungen Republik und ließ Rathenau am Ende selbst an seiner Strategie zweifeln. „Unerfüllbar“, lautete das letzte Wort, das der Reichsaußenminister zu Papier brachte, bevor ihn die Kugeln seiner Mörder trafen. In seinen Prophezeiungen wurde Rathenau ebenso oft bestätigt wie krachend widerlegt. Sein Mitteleuropaplan war nationalgeschichtlich begründet, und ihm schwebte eine deutsche Dominanz vor, die allen Ängsten der deutschen Nachbarn Recht geben und die Europäische Union sprengen würde.

Tiefere Bedeutung für die Gegenwart gewinnt Rathenau also nicht durch überzeitliche Aktualisierung, sondern durch historische Situierung. In seine Zeit gestellt, wird er als ein Mann der Gegensätze sichtbar, dessen janusköpfige Zerrissenheit schon seine Mitwelt empfand. Als Vereinigung von Kohlepreis und Seele zeichnete Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ seine Romanfigur Paul Arnheim, die unverkennbar die Züge Walther Rathenaus trägt. In seiner Rede anlässlich des im Hotel Adlon gefeierten 50. Geburtstags kam Rathenau auch selbst auf die von ihm empfundene „Vielspältigkeit“ zu sprechen: „Von meiner Jugend her ist es mir ein Erbteil gewesen, dass ich dem, was die Natur mir gab, mich in der Doppelheit fühle.“ Auch die Mitwelt begriff Rathenau bevorzugt als personifizierten Zwiespalt, besonders nachdem er im Oktober 1918 die Härte der bedingungslosen Kapitulation durch einen Aufruf zur Volkserhebung hatte verhindern wollen, der öffentlich als bloße Kriegsverlängerung verstanden wurde. In der Revolutionszeit erinnerte man sich Rathenaus als eines in sich zerrissenen Relikts einer unheilvollen Vergangenheit und verspottete ihn als „Jesus im Frack, Großkapitalist und Verehrer romantischer Poesie, kurz – der moderne Franziskus v. Assisi, das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands“.

Sebastian Haffner zählt Rathenau zu den fünf, sechs großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts

Erst im Rückblick wird sichtbar, dass diese Zerrissenheit Ausdruck einer Epoche am Scheideweg war. Dass Rathenau in den Worten Sebastian Haffners zu den fünf, sechs großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zählt, verdankte er gerade den in seiner Person zusammenlaufenden Spannungslinien. Rathenau verkörperte die Krise der auf Globalisierung drängenden und in ihren Nationalismen gefangenen Hochmoderne als Aristokrat und Revolutionär, als Patriot und Weltbürger zugleich. Als Industrieller hatte Rathenau erheblichen wirtschaftlichen Einfluss, als Jude blieb er zugleich in die sichtbaren und unsichtbaren Schranken eines Außenseiters im Kaiserreichs gezwungen. Aus dieser Dualität erwuchs die innere Spaltung des homo publicus Walther Rathenau, der in seinen ersten publizistischen Äußerungen Züge eines jüdischen Selbsthasses offenbarte und am Ende seines Weges bei der Ernennung zum Reichsaußenminister die Frage nach seinem Glauben als nicht verfassungsgemäß zurückwies.

Weltoffen und tolerant in seinen weltanschaulichen Grundsätzen, verblüffend illiberal in manchen Zukunftsentwürfen, irritierend pragmatisch in seinem politischen Handeln, repräsentiert Rathenau die Ambivalenz eines Zeitalters, das in eine Welt des Fortschritts in Frieden hätte münden können und in einer Apokalypse des Grauens unterging. Deren Vorboten konnten seinem Leben am 24. Juni 1922 mit dem Anschlag in einer Kurve der Grunewalder Koenigsallee ein Ende setzen. Seine historische Bedeutung als Exponent eines weltgeschichtlichen Umbruchs auslöschen, das konnten sie allerdings nicht.

Martin Sabrow ist seit 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Martin Sabrow

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