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Mitglieder der Gruppe "Architopf" protestieren auf der Documenta X 1998 mit Rasenmähern gegen "geistige Kleingärtnerei".

© picture-alliance / dpa

Zukunft der Documenta: Ein Planet namens Kassel

Das Kollektiv Ruangrupa aus Indonesien soll die Documenta in die Zukunft führen. Wie kann die aussehen in einer Kunst-Welt voller Biennalen und globaler Events?

Nach der letzten Documenta hagelte es Kritik. Kurator Adam Szymczyk rief dazu auf, etablierte Sichtweisen zu verlernen. Viele fanden, das sei nun das Ende der Kunst und die Documenta in der Krise. Zurück blieb die Frage: Was geht es weiter mit der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst? Letzte Woche präsentiert Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle in einer vollbesetzten Documenta-Halle dann die neuen Kuratoren für das Jahr 2022: das Kollektiv Ruangrupa aus Indonesien.

Sie lockt und sie schockt, hieß es 1967 in einem „Spiegel“-Artikel. Damals stand die vierte Ausgabe der großen Weltkunstschau bevor und der Düsseldorfer Museumsdirektor Werner Schmalenbach erklärte, warum er aus dem Documenta-Rat ausgetreten war. Er störte sich an der „Explosion der Jugend“.

Die Kasseler Schau wollte nämlich zum ersten Mal seit 1955 auf das Etablierte verzichten, nur noch Werke in den Blick nehmen, die in den vergangenen vier Jahren, also seit der letzten Documenta, entstanden waren: Pop-Art, Op-Art, Minimal, kein Picasso dieses Mal. Documenta-Pioniere wie Werner Haftmann, Alfred Hentzen und Will Grohmann waren ausgeschieden, Jüngere übernahmen das Ruder. Der Geist von 1968 wehte um die Ecke. Über die auszustellende Kunst wurde erstmals basisdemokratisch abgestimmt.

Gekracht und geknirscht hat es rund um die Documeta immer. Von Beginn an gehörte es zu ihrem Selbstverständnis, alles immer wieder infrage zu stellen. Doch welche Schau mit internationalem Ausmaß versucht das heute nicht?

Wo liegt noch das Besondere?

Die Documenta hat viel Konkurrenz bekommen in den letzten beiden Jahrzehnten. Museen wollen mit Events und großen Ausstellungen mehr Publikum erreichen, mehr als 200 Biennalen, Triennalen und Kunstfestivals in allen Erdteilen, von der Metropole bis zum abgelegenen Nest kamen hinzu. Viele dieser Veranstaltungen möchten eine Brücke schlagen zwischen dem Globalen und dem Lokalen, die meisten reagieren auf aktuelle Probleme der Gesellschaft. Es besteht der Wunsch nach weltweitem Dialog – genau wie bei der Documenta. Und immer geht es neben der Kunst auch um Stadtmarketing und Aufmerksamkeit. Wo liegt also noch das Besondere der Documenta?

Die Documenta wird von Jetset-Kunstsammlern, internationalen Kuratoren und nordhessischen Bürgern gleichermassen akzeptiert, diese Durchlässigkeit ist nicht bei allen Großausstellungen gegeben. Es gibt Kasseler, die kennen die ganze Historie der Documenta, obwohl sie sonst nie eine Kunstausstellung besuchen. Und kaum ein Bürger, der keine Meinung dazu hat.

Trotz ihrer langen Historie ist die Documenta wandelbar geblieben. „Sie hat Wagemut, anders als zum Beispiel die Venedig Biennale“, meint Roger M. Buergel, Leiter der Documenta 2007, der nach seinem Einsatz in Kassel auch Biennalen in Südasien, zum Beispiel in Busan kuratiert hat. Von dort weiß er von zäher Bürokratie und Überverwaltung zu berichten.

Mit der Entscheidung für Ruangrupa schlugen die Document-Verantwortlichen wieder einmal einen neuen Weg ein. Auch wenn alle vorherigen Kuratoren schon mit Partnern gearbeitet haben, ist nun erstmals ein Kollektiv offiziell beauftragt. Das heißt,es gibt nicht einen verantwortlichen, sondern viele. Ruangrupa ist an vielen Gemeinschaftsprojekten beteiligt, unter anderem initiierten sie im stark wachsenden Jakarta ein großes Gelände mit Künstlerateliers, Bibliothek und Radiosender. 2016 kuratierten sie die angesagte Sonsbeek-Ausstellung im niederländischen Arnheim.

Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik, der von 1968 bis 1992 die Besucherschulen der Documenta geleitet hat und auch schon Adam Szymczyk scharf kritisierte, sieht die Sache kritisch: „Es geht um die Autorität des Individuums, die gibt es nur in der euorpäischen Kultur. Die geben wir jetzt auf, indem wir auf Kollektive setzen, auf Spektakel.“

Man hat sich entschieden, nach vorne zu blicken

Der Weg des Kollaborativen zeichnete sich schon bei Szymczyk ab, der seinen Ko-Kuratoren viele Entscheidungen überließ. Er plädierte für Vielfalt und eine Verteilung der Macht. So ließ er die Ausstellung an zwei Orten stattfinden, in Kassel und Athen, was zu einem Defizit von 7,6 Millionen Euro führte und der Documenta-Geschäftsführerin Annette Kulenkampff den Job kostete. „Es waren schwierige Zeiten“, sagte Kassels Oberbürgermeister Geselle bei der Pressekonferenz. Doch: „Die vergangene Ausgabe ist aufgearbeitet, die wesentlichen Schlüsse für die Zukunft gezogen.“ Das Budget für die 15. Ausgabe wurde um 15 Prozent erhöht. Auch wurde ein neues Controlling und weitere feste Stellen in der Verwaltung geschaffen. Man hat sich entschieden nach vorne zu blicken.

Die Documenta trat einst an, um der durch die Nationalsozialisten verfemten Avantgardekunst in Deutschland einen Platz zu geben. Es herrschte riesiger Nachholbedarf. Dabei heißt es, Documenta-Initiator Arnold Bode habe zunächst nur ein paar Skulpturen im Rahmen der in Kassel anberaumten Bundesgartenschau aufstellen wollen. Doch dann gründete er einen Verein, warb Gelder ein und stellte hunderte Kunstwerke aus und zwar in einer für die damalige Zeit recht unerhörten Inszenierung. Er präsentierte Bilder auf Stelen oder frei im Raum stehend, wagte kühne Gegenüberstellungen von abstrakter und figurativer Malerei.

Die Schau zog damals 130 000 Besucher an, ein großer Erfolg. Seitdem hat die Documenta kontinuierlich an Besuchern zugelegt. Zuletzt kratzte sie an der Millionenmarke. Doch wohin soll das gehen? Lässt sich die Besucherzahl immer weiter steigern? Sowie die Zahl der Ausstellungsorte, die Internationalität, die Kunst?

Die Geschichte der Documenta ist auch eine Geschichte des Wandels, sie zeigt, wie der Kunstbegriff sich verändert hat und auch das Ausstellungmachen. Obwohl Arnold Bode bei der Ausgabe von 1968 die neue Kunst in den Vordergrund gestellt hatte, ließ er aktionsbasierte Strömungen wie Fluxus und Happening außen vor. Außerdem regten sich die 68-Studentengeneration darüber auf, dass zu viele Bilder von US-Amerikanern gezeigt wurden, „Americana“ nannten sie die Schau. Legendär wurde Harald Szeemanns Documenta von 1972.

Die Geburtsstunde des Kurators

Vielleicht war es sogar die Geburtsstunde dessen, was heute so normal erscheint: die starke Rolle des Kurators. Denn zum ersten Mal gab es ein Thema: „Befragung der Realität – Bildwelten heute“, nannte Szeemann sein Programm, an dem unter anderem Bazon Brock, Kasper König und Eberhard Roters mitarbeiteten. Dieses Mal prägten Konzeptkunst und Aktionskunst das Bild, unter anderem mit Beuys’ Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung. Die Ausgabe erwirtschaftete übrigens ein Defizit von 800 000 DM. Auch das ist bei der Documenta nicht neu. Dann kam Foto- und Videokunst, sowie die Kunst aus dem Sozialismus. Und im neuen Jahrtausend nahm die Documenta schließlich auch Kunst aus anderen Kontinenten in den Blick.

Der nigerianisch-amerikanische Kurator Okwui Enwezor untersuchte die Folgen des Kolonialismus und zoomte mit den so genannten Plattformen in Regionen außerhalb Kassels, etwa nach Lagos und Neu-Delhi. Noch weitere Kreise zog die Kuratorin der Documenta 13 Carolyn Christov-Bakargiev. Sie lud Künstler aus 50 Ländern ein und schwenkte unter anderem nach Kabul. Adam Szymczyk war also durchaus nicht der erste Kurator, der die räumlichen Grenzen der Documenta verschoben hat. Aber er hat es am weitesten getrieben, indem er die ganze Kunstgemeinde nach Athen zum Lernen schickte. Was kann da noch kommen?

Die Mitglieder von Ruangrupa versprechen Kollaborationen mit den Institutionen und Bewohnern der Stadt, ein „gemeinschaftliches Modell der Ressourcennutzung“. Und wieder einmal: eine andere Sicht auf die Welt.

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