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Kindheitserinnerung. Ab in das kühle Nass des Chiemsees.

© picture alliance/dpa

Zu den Wurzeln (letzte Ausgabe): Stiergewitter am Chiemsee

Zu Hause sind alle Covid-Ecken ausgeleuchtet. Wir sind an den Anfang zurückgegangen: Urlaub in der Jugend. Mit dem ersten Schultag endet die Sommerserie.

Von Caroline Fetscher

Auf dem Rücksitz drängten sich vier Kinder zwischen vier und elf, vorn am Steuer abwechselnd Vater und Mutter: So fuhr die Familie im Opel Kadett im Sommer 1969 von Südhessen an den Chiemsee. Ferien auf dem Bauernhof, das verhieß die Reise.

Nach einer halben Stunde quengelten die Kinder: „Sind wir bald da?!“ Noch viele Stunden lagen vor uns. Die Kinder kabbelten und quackelten, stritten und scherzten, der Fahrer wollte sich auf die Autobahn konzentrieren. „15 Minuten Gackerstopp!“, verkündete er. „Dafür gibt’s 50 Pfennige!“ Keins der Kinder hielt durch, soweit ich erinnere.

Der Hof war ein Prachtstück und gehörte einer echten bayerischen „Baronesse“. Das klang für uns exotisch. Um die Fenster und Türen des Hauses rankte sich barocke Lüftlmalerei, ausrangierte Futtertröge dienten als Blumenkästen. Drinnen war die Ferienwohnung für die Städter, draußen Heugeruch, Hühner und Kühe.

Zu jeder Kuh gehörte ein Namensschild über dem Verschlag, wir lasen, dass die Tiere auf Namen wie „Daphne“ oder „Kreszenz“ hörten. Das kam uns Stadtgören komisch vor. Noch doller waren die Vornamen der adligen Vermieter – etwa eine „Anna Maria Scholastika Eusebia Felicitas Perpetua Antoinette“. Der letzte ihrer Vornamen beanstandete offenbar diskret die Französische Revolution.

Am See führten Stege durchs Schilf zum Wasser, ihr Holz roch nach Harz und war warm von der Sonne. Riesige, schwarze Schläuche von Autoreifen dienten den Kindern als Schwimmringe, das Ventil musste man möglichst auf der Unterseite haben. Begeistert waren wir von Fischen, die sich mit einem Eimer aus dem Wasser schöpfen ließen. Dann konnte man sie beobachten, mit Brot füttern und zurückkippen in den See, wo sie blitzschnell im tiefblauen Wasser verschwanden.

Die Stiere brachen aus

Derart weite Gewässer hatten wir Kinder noch nicht gesehen. Ich war in Tübingen geboren und mit sechs in ein Dorf im Taunus gekommen, da gab es eine Idee von Neckar und Main, Tümpeln und Teichen, doch der Chiemsee war riesig, und Boote fuhren zu Inseln.

Aber das Großartigste war der Gewittertag, als die Stiere ausbrachen. Zum Verdruss der Eltern hockten die Kinder bei Regen in der Stube, mit Buntstiften und Blättern, als draußen trommelndes Hufgetrampel erklang. Vom Fenster aus sahen wir ein Dutzend Stiere über den Innenhof stampfen, schnaubend und brüllend.

Am Anwesen hatten sie den Weidezaun durchbrochen und provozierten die Landwirte mit einem Freiheitsdrang, der uns in Bann schlug. Sie wurden bald eingefangen, mit Hunden und Rufen trieben die Landwirte sie in den Stall. Wir ahnten damals: Nichts ist schöner, ganz gleich wo und wie die Ferien aussehen, als die Ausnahmen, das völlig Unerwartete.

In der Reihe erschienen: Worms (2.7.), Völklinger Hütte (9.7.), Berlin-Konradshöhe (14.7.), Leverkusen (17.7.), Kassel (21.7.), Berlin-Lichterfelde (26.7.), Bad Abbach (30.7.) und Celle (2.8.)

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