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Die 1959 geborene israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev.

© imago/Leemage

Zeruya Shalevs Roman "Schicksal": Andauernde Spannungen in Israel

Ein Ereignis: Zeruya Shalev erzählt in ihrem neuen Roman "Schicksal" eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Staatsgründung Israels.

Es ist der Tod, der in allen Winkeln dieses monumentalen Romans lauert. Mal schwebt er über einer alten Frau wie eine Fledermaus; dann streckt er völlig unerwartet einen Dozenten im Ruhestand nieder. Oder er trifft eine junge Frau, die Opfer eines Terroranschlags wird.

Zeruya Shalevs neuer, so kluger und intensiver Roman „Schicksal“ handelt von Fehlentscheidungen und unglücklichen Verkettungen, davon, dass jemand zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Die Lektüre dieses welthaltigen Romans schmerzt geradezu körperlich. Er ist ein Ereignis.

Die 90jährige Rachel und die fast 50jährige Architektin Atara sind zwei völlig unterschiedliche Frauen. Rachel, verwitwet, lebt einsam in einer Siedlung bei Jerusalem. Der Kontakt zu ihrem älteren Sohn gestaltet sich frostig, ihr jüngerer Sohn ist ultraorthodox, was Rachel immer wieder befremdet.

Viele psychologische Verstrickungen

Als junge Frau hatte sie eine Kurzehe mit dem gleichaltrigen Meno, gemeinsam kämpften sie in der zionistischen Untergrundbewegung Lechi gegen die britische Besatzung und für einen jüdischen Staat. Meno verließ Rachel eines Tages und gründete später eine Familie.

Über seine erste Ehe hat er beharrlich geschwiegen – und über die junge Frau, der Atara, seine Tochter, ihren Namen verdankt. Nach Menos Tod will Atara nun Rachel kennenlernen und mehr erfahren über das Leben ihres Vaters und seiner ersten Frau im Untergrund.

Was wäre gewesen, wenn Atara, die mit Ehemann Alex und Sohn Eden in Haifa lebt, nicht zu Rachel gefahren wäre? Wenn sie nach der ersten Begegnung, bei der Rachel abweisend und wortkarg war, nicht zu ihr zurückgekehrt wäre?

Diese Frage hängt drohend über der Geschichte, in deren Fortgang sich die Schlinge immer mehr zuzieht. Als Atara ein zweites Mal zu Rachel fährt, bekommt sie nur von Ferne mit, dass ihr Mann in der Notaufnahme gelandet ist. Wenig später stirbt Alex an einem septischen Schock. Das Gefühl von Schuld lässt Atara nicht mehr los: Warum ist sie auf der Fahrt zu Rachel nicht umgekehrt, um ihren Mann im Krankenhaus zu unterstützen?

Es geht um den Sinn von Kampf und Terror

Rachel wird für Atara zu einem Todesengel und das Schuldgefühl zu einer Obsession, das ähnlich schwer wiegt wie der Tod von Alex. Dass auch Rachel als militante Kämpferin Schuld auf sich geladen hat, verbindet beide Frauen wiederum aufs Unheilvollste.

Es ist die große Kunst von Zeruya Shalev, jede ihrer Figuren in allen psychologischen Verstrickungen so genau auszuleuchten, als lägen sie vor einem auf der Therapeuten-Couch. Sie zeigt ihre Figuren nackt, mit ihren unglücklichen Kindheiten – Atara ist von ihrem Vater misshandelt worden – und Beziehungsgeflechten.

Wir bekommen Einblick in die komplizierte Ehe zwischen Alex und Atara, die sich in einem ständigen Gezänke und Gestichele gegenseitig aufreiben und trotzdem nicht voneinander lassen können – Liebe als Zerreißprobe. Beide hatten für die neue Beziehung ihre Ehepartner im Stich gelassen, ihren Kindern Trennungen zugemutet, um sich dann gemeinsam in einem großen Patchwork zu vereinen.

Auch Eden, der verschlossene Sohn von Alex und Atara, der eine Zeitlang in einer Eliteeinheit der Marine diente, ist Teil des Patchworks, auch er ist traumatisiert. Nach dem Tod des Vaters wird er ebenfalls von einer Obsession geplagt: Er glaubt, sein Vater habe ihm noch etwas mitteilen, etwas hinterlassen wollen, kurz bevor er starb – nur was? Doch es gibt in diesem komplexen Buch nicht nur die Schwere, die Unvermeidlichkeit der Katastrophe. Wenn Shalev zeigt, wie sich das Haus der Familie mit Trauergästen füllt, die Atara und ihrem Sohn zur Last fallen, erweist sie sich als Meisterin des hinterhältigen Spotts. Atara fühlt sich fremd in ihrem eigenen Haus, in dem die Gäste tagelang ihre Schweiß- und Parfümschwaden hinterlassen. Am liebsten, fantasiert sie, würde sie beim Geschirrabräumen über alle herziehen – gemeinsam mit ihrem Mann, der abwesenden Hauptperson des ganzen Spektakels.

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„Schicksal“ ist nicht nur eine große Familiengeschichte, sondern ein politischer Roman. Es geht um die Gründung und den Existenzkampfs Israels, um den Sinn von Kampf und Terror. Rachel, die im Untergrund eine aktive Kämpferin war und einen Kinderwagen durch die Straßen schob, in dem eine Babypuppe mit einer Bombe im Bauch lag, hat nun Zweifel: War der radikale Kampf der Lechi-Bewegung „für die Freiheit Israels“ richtig?

Gerade auch wegen der vielen Unschuldigen, die dabei ums Leben kamen? Ihr Vater habe übrigens ebenfalls für die Lechi gekämpft, bekannte Shalev jüngst in einem Interview. Allerdings war er nicht an Anschlägen beteiligt.

Die Autorin gräbt nicht nur tief in der Vergangenheit ihres Landes, sie beleuchtet auch die aktuelle politische Situation. Immer wieder schwingen hier Trauer und Pessimismus mit.

Shalev schafft poetische Bilder

Da heißt es zum Beispiel über Atara, die beunruhigt auf ihrem Handy die Nachrichten liest: „In letzter Zeit hat sie das Gefühl, sie habe den Staat schon aufgegeben und führe nur noch ihr Haifaer Stadtleben, das Leben der einzigen Stadt in Israel, die versucht, die Vision eines Zusammenlebens zu verwirklichen, eine beinah romantische Fantasie, die sie verzaubert hatte, als sie von Jerusalem hierhergezogen war, und die in ihr noch immer ab und zu Hoffnung weckt. Doch die Nachrichten, die sie jetzt liest, bieten nicht viel Hoffnung“.

Bei solchen Sätzen denkt man unweigerlich an die jüngsten Auseinandersetzungen im Land, an den Krieg mit der Hamas in Gaza und die fast schon bürgerkriegsähnlichen Zustände in Israels Städten. Die andauernde Anspannung, die über Ataras Ehe und ihrer Familie schwebt, findet ihr Äquivalent in der politischen Lage Israels. Eine Familie und ein ganzes Land in ständigem Alarm-Modus.

So verdoppelt sich die nervöse Beklemmung, die den Sog dieses Romans ausmacht. „„Schicksal“, von Anne Birkenhauer eindrucksvoll ins Deutsche übertragen, ist kunstvoll komponiert: ein Geflecht aus Querverweisen, Anspielungen, Zeitsprüngen, Bibelzitaten und jüdischen Weisheiten. Abwechselnd werden in achtzehn Kapiteln Rachels und Ataras Geschichten erzählt. Viele Kapitelüberschriften sind mahnende Fragen oder Sätze, die mit fast alttestamentarisch anmutender Strenge das Unglück vorwegnehmen. „Wo warst du, Atara?“ ist zum Beispiel das Kapitel überschrieben, in dem Alex stirbt.

Shalev, die 1959 in einem Kibbuz geboren wurde, hat einen opulente Geschichte geschrieben, in der nur gegen Ende etwas viel von Schuld und Schmerz geraunt wird. Ansonsten schafft Shalev immer wieder Bilder von unerhörter Poesie. Wenn sie etwa ein Familientreffen schildert, ein Pessach-Fest am Meer aus glücklichen Tagen. Einige aus der Familie stehen gut gelaunt auf dem Balkon, tragen weiße Hemden „wie Segel im hinter ihnen dunkler werdenden Meer“

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