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Zerstörte Schule im Nordosten Charkiws.

© dpa/Alex Chan Tsz Yuk

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (32): Die Fotos meines Vaters

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

12. Mai 2022

In meinem Instagram-Feed versuche ich vergeblich, die Einladung zu einer Ausstellungseröffnung zu finden, wo ich auflegen soll, bin aber schnell von einer gerade angekommenen Nachricht abgelenkt. Mir schreibt ein 77-jähriger Herr, der mich neulich nach einer Lesung angesprochen hat.

Da ich mich beeilen musste, um den letzten Zug nach Berlin zu schaffen, konnten wir nur kurz plaudern – nun schreibt er mir über Instagram, wie spannend er meinen Auftritt fand und welche Assoziationen meine Texte in ihm weckten. Mit meiner Heimatstadt Charkiw zum Beispiel ist die Geschichte seiner Familie direkt verbunden. „Mein Onkel war da“, schreibt er, „er war ein SSler, dort wurde er 1943 erschossen.“

Gut, dass ich die Adresse noch mal nachgeschaut habe! Ich ging wochenlang davon aus, dass die Galerie Buchkunst, wo ich hinmuss, sich in der Immanuelkirchstraße befindet. Aber nein, nur Thomas Gust, einen der Betreiber, habe ich tatsächlich in der Immanuelkirchstraße kennengelernt, in einer tollen Fotobuchhandlung. Dort habe ich über die Jahre großartige Ausstellungen gesehen, unter anderem auch eine zur Charkiwer Schule der Fotografie.

Diese Woche, als ich endlich dazu kam, in meiner Wohnung aufzuräumen, bin ich auf zwei Kartons mit den schwarz-weißen Bildern meines Vaters gestoßen. Genau wie Boris Mikhailov, der bekannteste Fotograf aus unserer Heimatstadt, ist mein Vater Ende der 1930er geboren – nach seinem Alter hätte er, so wie Mikhailov, zur ersten Generation der Künstler der Charkiwer Schule gehören können.

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Schaut man sich jedoch seine Bilder an, sieht man, dass sie ganz anders sind als bei seinen prominenten Kollegen – nicht so radikal, nicht so experimentell. Seine Werke wird man zwar nicht im Centre Pompidou finden, aber dafür hinterließ er Bilder der Stadt, wo er über fünf Jahrzehnte lebte – und die nächsten Generationen werden ihn nicht mehr so erleben können.

Ich lege an diesem Abend ausschließlich ukrainische Musik auf und obwohl es mich als DJ eher nervt, wenn ich nicht laut sein kann, diesmal freut es mich. Heute geht es mir nicht darum, Menschen zum Tanzen zu bringen. Heute bleibe ich gern im Hintergrund.

13. Mai 2022

Und wieder geht es nach Erfurt, wo dieses Wochenende die Workshops zum Projekt „Alte Steine, Neue Töne“ beginnen – mit meinen Musikerkollegen und jungen Teilnehmerinnen aus Thüringen setzen wir uns mit der jüdischen Geschichte Erfurts auseinander und komponieren dazu Popsongs. Christian Dawid und ich, beide unausgeschlafen, treffen uns kurz nach acht am Hauptbahnhof, nur um zu hören, dass unser Zug ausfällt. Die Webseite der Deutschen Bahn sagt, daran sind verbrannte Kabel in Hamburg schuld. 90 Minuten später schaffen wir es endlich, in einen Zug einzusteigen.

Alle Sitzplätze sind besetzt, wir müssen stehen. Christian versucht zu schlafen. Ich höre mir die Songs an, die ich Anfang des Jahres begonnen habe, für das Projekt zu schreiben. Nachdem der Krieg ausgebrochen war, habe ich damit nichts mehr gemacht. Ich bin gespannt, was wir nun zusammen daraus entwickeln können, und muss an die drei Wochen denken, die ich im Herbst 2020 in Popasna verbracht habe, wo wir mit den Schulkindern Songs zum Album „New Donbass Symphony“ geschrieben und aufgenommen haben.

Es war eine meiner spannendsten Erfahrungen als Songschreiber. Vor ein paar Tagen hat mir ein Kollege, der damals dabei war, ein aktuelles Foto von Popasna geschickt. Die Stadt scheint komplett ruiniert zu sein. Auf dem Bild, das von oben gemacht wurde, findet man kein einziges nicht zerstörtes Haus.

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Yuriy Gurzhy

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