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Auf Flohmärkten werden manchmal auch rare Platten angeboten.

© Baloncici/Panthermedia/Imago

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (25): Opas Platten und peinliche Vinylschätze

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

22. April 2022
Unzählige Stunden meiner Kindheit in Charkiw habe ich im Zimmer meines Opas verbracht. Obwohl, Opas Zimmer darf ich es eigentlich nicht nennen, das wäre nicht ganz korrekt, da es nicht nur meinem Opa gehören könnte. Wir lebten zu fünft in einer relativ kleinen Wohnung und als 1985 meine Schwester geboren wurde, waren wir sechs.

Es war ein Durchgangszimmer, und für ein Paar Stunden am Tag wurde es in eine Zahnarztpraxis verwandelt. Meine beide Großeltern waren Zahnärzte und haben ihre Patienten zu Hause empfangen. Das war illegal, aber sie haben es trotzdem gemacht. Heute frage ich mich, wie sie damit klar kamen. Mein Großvater war nicht besonders mutig, und das mit der privaten Zahnarztpraxis durchzuziehen war schon eine gewagte Aktion …

Die Berliner Plattenläden euphorisierten mich

Als Jugendlicher wollte mein Opa Musiker werden. Dann begann der Zweite Weltkrieg, er musste aus seiner Heimatstadt Rostow vor den Deutschen fliehen. Auf dem Weg nach Taschkent wurde ihm seine Geige geklaut, und nach dem Sieg entschied er sich nicht mehr fürs Musik-, sondern fürs Medizinstudium. Musik blieb seine große Liebe.

Mein Großvater konnte auf vielen Instrumenten spielen und tat es auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Bei den Familienfeiern setzte er sich immer ans Klavier. Auch Platten hat er gesammelt. In dem Zimmer, wo seine Schallplatten und Plattenspieler standen, blieb ich sehr gern wenn ich krank war und nicht in die Kita konnte, was ziemlich oft der Fall war. Wenn er nicht seine Patienten empfangen musste, hat er für mich aufgelegt. Sein Musikgeschmack war sehr eklektisch – wäre er 50 Jahre später geboren, wäre er bestimmt DJ geworden.

Mir spielte er Kinderplatten vor, aber auch alte jüdische Musik, und obwohl ich zu der Zeit gar keine Ahnung hatte, was „jüdisch“ bedeutet, fand ich seine Musikauswahl immer cool. Mit 13 entdeckte ich Rock’n’Roll für mich. Auf musikalischer Ebene haben mein Großvater und ich uns nicht mehr so gut verstanden, aber ich fing auch an, Schallplatten zu sammeln. Als wir 1995 nach Deutschland emigrierten, mussten wir uns von unseren Plattensammlungen trennen.

Sobald ich aus dem Emigrantenwohnheim in eigene Wohnung zog, habe ich mir einen Plattenspieler besorgt und wieder angefangen, Platten zu kaufen. Ich war vom Angebot der Berliner Plattenläden euphorisiert – alles, wovon ich in der Ukraine nur träumen könnte, war da. Jeden Sonntag besuchte ich Flohmärkte auf der Jagd nach den Vinylschätzen und merkte, wie ich jedes Mal Tränen in den Augen hatte, als ich plötzlich auf eine Platte gestoßen bin, die ich aus der Sammlung meines Opas kannte.

Er wäre sinnlos, absurd gewesen, sie für ihn wieder zu kaufen, er hatte keine Möglichkeit, sie abzuspielen, und das Interesse für Musik hat er langsam verloren, wie sein Gedächtnis. Aber ich musste sie mitnehmen, auch wenn ich wusste, ich werde mir diese Platten wahrscheinlich nie anhören.

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Daraus wurde eine Gewohnheit. Bei jedem Ukraine-Besuch in den letzten 20 Jahren ging ich zu Flohmärkten, in Charkiw, Kiew, Lwiw, Mariupol, Mykolajiwka und Popasna und brachte immer alte Platten nach Berlin mit. Und manchmal waren es Sachen, die ich schon mal mit 15 oder 17 kaufte – der Soundtrack meiner Jugend.

Dazu noch bin ich Mitglied bei Facebook-Gruppen der ukrainischen Vinyl-Freaks, obwohl ich dort so gut wie nie was erwerbe. In den letzten Wochen beobachte ich, wie die anderen Plattenliebhaber die alten Alben russischer Bands aus ihren Sammlungen verkaufen wollen.

Ist der Krieg die beste Medizin gegen Nostalgie und Sentimentalität? Die Songs, die bei unseren ersten Partys im Hintergrund liefen, zu denen wir den ersten Kuss bekommen und den ersten Joint gedreht haben – oft sind sie jetzt nur noch peinlich, vor allem wenn man heute mitbekommt, dass ihre Interpreten an den Konzerten teilnehmen, die die russische Armee in ihrer „heroischen militärischen Spezialoperation“ unterstützen sollen.

Lesen Sie hier weitere Teile des Tagebuches:

Yuriy Gurzhy

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