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Daniel Kahn, Marina Frenk und Yuriy Gurzhy (von links) sind The Disorientalists.

© Oleg Farynyuk

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (24): Wie Essad Bey von Kiew nach Berlin kam

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

20. April 2022
„Aber ich will es nicht machen, sorry, ich habe bereits abgesagt, lass am besten Daniel mit ihr sprechen!“, sage ich Marina, als sie mich anruft, um zu fragen, ob ich nicht doch noch das Interview zu unserem Konzert in Mainz machen möchte.

Marina Frenk, Daniel Kahn und ich sind ein Trio, wir nennen uns The Disorientalists und am kommenden Sonntag sollen wir in Mainz auftreten. Wir sind eine ungewöhnliche Band, denn wir spielen immer das Gleiche und zwar unseren Songzyklus über das Leben und die Abenteuer von Essad Bey, einen deutschen Schriftsteller, der in Berlin und Wien lebte und in den dreißiger Jahren einige Bestseller geschrieben hat.

Seine Eltern waren jüdisch, sein erster Name lautete Lew Nussimbaum

Unsere Essad-Bey-Songs haben wir zum ersten Mal 2015 im legendären Studio Я des Maxim Gorki Theaters aufgeführt. Der Auftritt in Mainz war schon für 2021 geplant, dann mussten wir verschieben, coronabedingt. Inzwischen hat die Welt andere Sorgen, aber wir haben uns trotzdem entschlossen, das Konzert nicht ausfallen zu lassen.

Die Journalistin will unbedingt mich und nicht Daniel sprechen, weil ich Ukrainer bin, erzählt mir Marina. Das überrascht mich nicht, so ist es gerade. Die Tatsache, dass ich aus der Ukraine komme, ist spannender und würde die Leser wahrscheinlich mehr interessieren, als das verrückte, geheimnisvolle Leben Essad Beys.

Ich überlege, sage am Ende doch zu und beantworte im Zoom-Gespräch die Fragen, die ich schon seit Wochen fast täglich gestellt bekomme: Ob ich noch Familie in der Ukraine habe, wie es meinen Leuten dort geht? Werden sich Ukrainer und Russen irgendwann wieder vertragen können? Und ob ich auch beim Konzert von Disorientalists Bezug auf meine Heimat nehme.

Lew Nussimbaum, später Essad Bey nannte sich auch Kurban Said. Gedenktafel in der Berliner Fasanstraße.
Lew Nussimbaum, später Essad Bey nannte sich auch Kurban Said. Gedenktafel in der Berliner Fasanstraße.

© Stefan Zeitz/Imago

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Eigentlich tue ich seit zwei Monaten bei meinen Veranstaltungen nichts anderes als über die Ukraine zu sprechen. Jedoch darf ich dabei immer selbst entscheiden, was ich singe oder vorlese. Bei Disorientalists aber gibt es eine ganz konkrete Geschichte, die wir auf der Bühne erzählen, und die hat nichts mit der Ukraine zu tun – oder doch?

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Wenn man genauer hinguckt, stellt man fest, das Essad Bey 1905 in Kiew zur Welt kam, dazu gibt es einen entsprechenden Eintrag im Registrierungsbuch der Kiewer Synagoge. Damals war sein Name noch nicht Essad Bey, sondern Lew Nussimbaum. Seine Eltern waren russischsprachige Juden, der Vater ein wohlhabender Ölindustrieller aus Baku, die Mutter eine passionierte Revolutionärin, die unter anderem mit einem gewissen Iosseb Dschughaschwili, später bekannt als Stalin, befreundet war.

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Sie nahm sich das Leben, als ihr Sohn gerade sechs war, der kleine Lew ist mit einer Kinderfrau namens Alice Schulte aufgewachsen. Schulte war Deutsche und so ist es kein Wunder, dass Lew, als die Nussimbaums nach der Oktoberrevolution Aserbaidschan verlassen mussten und nach einer langen Reise in Berlin gelandet sind, Deutsch sprach. 1922 trat Lew Nussimbaum in der türkischen Botschaft in Berlin zum Islam über und nahm den Namen Essad Bey an.

Er fing an, zu schreiben, seine Kolumnen erschienen auf Deutsch in der „Literarischen Welt“ sowie auf Russisch in der Emigrantenpresse. Oft behauptete er, ein persischer Prinz zu sein, dabei teilte er seine Wohnung in der Fasanenstraße (gegenüber vom Literaturhaus) weiterhin mit seinem jüdischen Vater…

Je länger ich über Essad Bey nachdenke, desto offensichtlicher wird es für mich: Eigentlich haben wir es hier mit der Lebensgeschichte eines in der Ukraine geborenen russischsprachigen Flüchtlings zu tun, dessen Familie in der Heimat alles verloren hat. Und dies entspricht – leider! – genau der momentanen Situation vieler Menschen in Deutschland. Jetzt bin ich überzeugt, dass das Programm der Disorientalists aktueller denn je ist!

Lesen Sie hier weitere Folgen des Kriegstagebuchs:

Yuriy Gurzhy

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