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Ein Massengrab in Butscha.

© Sergei Supinsky/AFP

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (17): Aus der Bar ist ein Bunker geworden

Der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.

3. April 2022
„Musik funktioniert nicht mehr“, schreibt Vitali „Bard“ Bardetski auf Facebook. Er ist jemand, dessen Leben seit Jahrzehnten mit Musik direkt verbunden ist. Bard war schon Musikjournalist, hat PR für die ukrainischen Superstars Skriabin und Okean Elzy gemacht und den legendären Club Khlib betrieben.

Seit ein paar Jahren führt er Gram, eine Bar mit einer riesigen Schallplattensammlung, leckeren Cocktails und dem besten Soundsystem Kiews. Gram ist einer meinen Lieblingsläden in der ukrainischen Hauptstadt, jedes Mal wenn ich in Kiew bin, muss ich unbedingt hin, um dort Schallplatten zu lauschen.

Die Bilder aus Butscha lassen mich an Babyn Yar denken

Musikhören ist für mich schon immer ein physisches Vergnügen gewesen, etwas nicht nur für die Ohren, sondern für den ganzen Körper … aber leider muss ich Vitali zustimmen, gerade klappt es nicht. So geht es im Moment vielen.

Als ich von Vitali höre, bin ich mit meinen Gedanken im Gram, und dann auch in einem anderen Lieblingsladen von mir, dem Schoolpub in Charkiw. Dessen Direktor Bohdan kenne ich noch von der Schule, in den frühen 90ern waren wir zusammen in der Linguistikklasse. Mit seiner Karriere war Bohdan konsequenter als ich. Sogar in der Bar ist das Thema Sprachen präsent. Im Schoolpub gilt nur eine Regel, man darf dort nur Englisch sprechen.

Wenn man’s gar nicht kann, dann Ukrainisch. Das Personal kommuniziert mit den Besuchern ausschließlich in der Sprache Shakespeares - ich glaube, in Charkiw ist es der einzige Ort mit einem solchen radikalen Sprachkonzept. Und es ist wirklich beeindruckend, wie gut es klappt.

Man geht in einen ganz normalen Hof rein in der Rymarska Straße im Zentrum von Charkiw, läuft die Treppe runter (denn der Schoolpub sich in einem Keller befindet) - und schon hat man das Gefühl, ganz woanders zu sein. Alle meine deutschen Freunde, die schon in Charkiw waren und mich nach Ausgehtipps fragten, haben den Schoolpub ausgecheckt und fanden den Ort sensationell.

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Ich sehe die aktuellen Bilder in Bohdans Facebook-Profil – die Bar ist zu einem Schutzbunker geworden, dort leben Charkiwer Familien, deren Häuser zerstört wurden. Da, wo jetzt eine Couch steht, saßen wir im November letzten Jahres und ich erzählte Bohdan von unserem Projekt „Songs For Babyn Yar“ (of course in English), das wir damals mit den fantastischen Sängerinnen Mariana Sadovska und Sveta Kundish in London und in Kiew aufführen sollten. Es war eine sehr persönliche und intensive Auseinandersetzung mit einer der schrecklichsten Tragödien des Holocausts, die uns sehr schwer gefallen ist.

Babyn Yar ist meine erste Assoziation, wenn ich die Bilder eines Massengrabes aus Butscha sehe. Dafür gibt es keine Worte, in keiner Sprache der Welt. Das übersteigt alles. Die Menschen, die das gemacht haben, kann man nicht verstehen. Ihnen kann – und wird – man auch nicht vergeben, nie. Gefolterte, vergewaltigte, ins Genick geschossene Bewohner*innen von Butscha und Irpin, unter ihnen auch Frauen und Kinder. Die Opfer der russischen Entnazifizierung?!

Wird es in Deutschland noch Menschen geben, die es danach wagen, von „Putins Krieg“ zu sprechen? Man kann es nicht oft genug sagen, laut, klar und deutlich – wir haben es hier mit dem Genozid des ukrainischen Volkes zu tun, den russland (ab jetzt sollte der Name dieses Landes nur noch kleingeschrieben werden) mit den Händen seiner Bürger betreibt. Am Massaker von Butscha ist russland schuld. Am Massaker von Butscha sind russen schuld. Ein Freund schreibt: „Jetzt verstehe ich die Tschetschenen, die ihnen die Köpfe abgeschnitten haben.“

Lesen Sie hier weitere Teile des Kriegstagebuchs:

Yuriy Gurzhy

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