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Serhij Zhadan & Sobaky 2016 beim Konzert im Platforma Tu in Mariupol.

© Evgeny Sosnovsky

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (10): Erinnerung an ein fantastisches Konzert in Mariupol

Der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.

17. März 2022
Im Frühling 2016 veröffentlichten Serhij Zhadan & Sobaky das Album „Psy“. Ich hatte bei einigen Stücken mitgespielt und mitgesungen, für den Sommer war eine gemeinsame Festival-Tour geplant. Das hat sich dann zwar zerschlagen, aber als Serhij vorschlug, einige Konzerte im Donbass zu spielen, sagte ich sofort zu.

Ich fliege nach Charkiw, um noch mit der Band zu proben. Mich begleitet ein guter Freund aus Berlin, der Regisseur Marcus Welsch, der die Tour mit der Kamera dokumentieren will. Die Organisation ist Chaos pur, niemand weiß genau, wo und wann wir spielen sollen.

Die Straßen sind kaputt, in letzten Jahren fuhren hier Panzer

Aber irgendwann wird klar, dass mit Zhadan & Sobaky eine richtige Kulturkarawane, mit mehreren Bands und Dichtern unterwegs sein wird. Unter anderem soll die Band Papa Karlo dabei sein. Verrückt, mit diesen Jungs teilte ich bei einem meiner allerersten Konzerte im Oktober 1992 die Bühne. 24 Jahre später sollten wir und wieder begegnen!

Unser erstes Ziel ist Mariupol. Als erfahrener Tourmusiker, habe ich mich auf die Fahrt vorbereitet - ein spannendes Buch, ein voll geladener Laptop. Wenn meine Band unterwegs ist, schaue ich mir in den langen Stunden auf der Autobahn Filme an und beantworte Mails. Außerdem kann ich im Bus gut schlafen - manchmal sogar besser, als im eigenen Bett.

Wir fahren aus Charkiw los und ich stelle bald fest: Nichts davon ist möglich. Die Straßen sind im Arsch, sie wurden lange nicht mehr erneuert. In den letzten Jahren fuhren hier zudem noch Panzer entlang, erzählen mir meine ukrainischen Kollegen. Marcus versucht, zu filmen, aber es ist nicht einfach, die Hand zittert, unser Bus wackelt die ganze Zeit. Außerdem ist es extrem warm. Endlich erreichen wir Mariupol.

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Ich schicke eine Nachricht an Mascha, eine alte Freundin aus Uni-Zeiten. Sie ist hier aufgewachsen, lebt aber inzwischen in der USA, ihre Eltern sind noch hier – ich schreibe, sie solle sie zu unserem Konzert einladen. Wir verabreden uns mit Andrij, den ich ein paar Jahre zuvor in Berlin kennengelernt habe, er lebt in Kiew, ist aber gerade zu Besuch bei seinem Vater in Mariupol. Wir treffen uns vor dem Soundcheck, er zeigt Marcus und mir die Stadt.

Erschöpfter Punk nach dem Konzert.
Erschöpfter Punk nach dem Konzert.

© Evgeny Sosnovsky

Das Konzert soll in Platforma Tu stattfinden. Von diesem Ort habe ich viel gehört, er ist neu – ein Kulturzentrum, eine Kunstgalerie, ein Klub. Das Konzert, das wir dort spielen, ist eines der besten in meiner Musikerkarriere. Der Sound ist zwar schrecklich, alles brummt und summt, man kann kein Instrument heraushören, aber es ist trotzdem fantastisch.

Ich habe den Eindruck, dass es hier nicht um die Melodien oder den Groove geht, nicht um die Virtuosität, nicht mal um die Songtexte, die man wahrscheinlich auch nicht wirklich hört – es geht um den Energieaustausch, und der klappt einfach wunderbar. Auf meinem Handy habe ich bis heute das Foto von einem jungen Mariupoler Punk mit seinem perfekten Irokeseschnitt, der halbnackt, nach unserem Konzert völlig erschöpft auf dem Boden von Platforma Tu liegen geblieben ist.

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Das sind meine Erinnerungen an einen Tag in Mariupol. An das Mariupol, in dem heute, sechs Jahre später, angeblich kaum noch unbeschädigte Wohnhäuser stehen. Wo die Menschen seit Wochen kaum aus den Kellern rauskommen, weil dort die ganze Zeit gebombt wird. An das Mariupol ohne Strom und ohne Heizung. An das Mariupol, wo es nachts minus fünf Grad ist. Weder Andrij, noch Mascha haben seit Wochen von ihren Eltern gehört.
Russisches Kriegsschiff, fick Dich!

Lesen Sie hier die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:

Yuriy Gurzhy

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