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Der Roman „Der Himmel vor hundert Jahren“ der Moskauer Autroin Yulia Marfutova.

© Rowohlt Verlag

Yulia Marfutova: „Der Himmel vor hundert Jahren“: Der Fluss ist ein Joker

Yulia Marfutova erzählt in ihrem Debütroman von einem russischen Dorf in den Wirren der Revolution.

Ob der Himmel vor einem Jahrhundert so viel anders war als heute? Kaum anzunehmen, zumindest nicht in Gegenden fernab von Großstädten und Industrie. Wenn also ein Roman vom Geschehen rund um die Russische Revolution erzählt und dafür ein Dorf aussucht, das unterm „Blaugrau“ seines Himmels noch gar nichts von den Ereignissen weiß, bekommt dieser Himmel eine eigentümliche Materialität.

Er ist keine Metapher und kein Symbol, aber doch mehr als ein bloßes physikalisches Faktum. Er schafft eine Sphäre, die in eine auf äußerst karge Weise verzauberte Welt entführt. Zugleich hat diese Welt nichts Exotisches.

Sie ist einfach da und besteht aus wenigen Dingen, ein paar menschlichen Beziehungen, Orten, an denen man sich trifft, dem Fluss, der die Landschaft zerteilt und dessen anderes Ufer fern genug ist, damit die meisten Dorfbewohner es nie betreten. An Reisen denkt hier niemand. Man ist froh, wenn man über die Runden kommt. Nichts ist so wichtig wie das Wetter.

Ilja kann das Wetter vorhersagen

Deshalb pilgern alle zum alten Ilja. Er hat ein mit Quecksilber gefülltes Glasröhrchen. Damit kann er das Wetter vorhersagen. Pjotr, fast so alt wie der „Dorfweiseste“, misstraut dieser Methode. Er glaubt daran, dass der Fluss alles weiß, was man wissen muss.

An Gott und alle möglichen Geister glaubt er auch, und daran, dass es auf keinen Fall gut gehen kann, wenn sich der Mensch darüber erhebt: „Wo man den Geistern die Tür weist, da gehen sie nicht mehr hinein.“ Das ist eine der vielen Redensarten, die zu dieser Landschaft gehören wie die zahlreichen Verzweigungen des namenlos bleibenden Flusses, bei dem es sich um einen der Nebenflüsse der Wolga handeln muss.

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Eine Handvoll Figuren bestimmt das Geschehen. Die zarten Fäden ihrer Alltagshandlungen weben ein Netz, in dem sich immer mehr Partikel der Außenwelt verfangen. Inna Nikolajewna, Iljas Frau, deren Neigungen eher mit denen von Pjotr übereinstimmen, früher waren sie sogar ein Liebespaar, findet eines Tages im Stall einen jungen Mann. Er ist abgemagert, trägt eine zerschlissene Offiziersuniform, aber keine Stiefel.

Er bekommt eine Ecke im Haus, wie jeder, der dort lebt. Annuschka, die Enkelin, darf auf dem Kachelofen schlafen. Ihre Eltern kamen durch eine Epidemie ums Leben. Vier Töchter hatte das Paar, alle sind gestorben.

Wadik fällt den Frauen auf

Wadik, der Fremde, den trotz seiner Uniform niemand für einen Offizier hält, ist das Gesprächsthema unter den Frauen, wenn sie sich auf dem Markt treffen. Jede möchte ihn sehen, jede will Geschichten über ihn hören, allen voran die Frau von Pjotr, Marfa Iwanowna und ihre als „plemplem“ geltende Schwester Warwara. Schließlich ist er der einzige junge Mann, den es zurzeit im Dorf gibt. Die anderen jungen Männer sind im „Krieg“.

Yulia Marfutova hat ihren Debütroman den Großeltern gewidmet. Sie erzählt ihre Geschichte als Tableau poetischer Reduktion. Auf den Spuren von Orlando Figes' berühmter Studie „Die Tragödie eines Volkes“, die sie am Ende dankend erwähnt, geht es ihr um die Auswirkungen der großen Politik auf die kleinen Leute.

Dabei verzichtet sie auf Begriffe. Auch als Erzählerin hält sie sich zurück, bis auf ein, zwei Bemerkungen, wo sie ironisch mit der Allmacht des Erzählens spielt. Als Pjotr eines Tages verschwindet, betont sie, auktorialer als an anderen Stellen, dass Wadik, der Fremde, nichts damit zu tun habe. Ansonsten lässt sie das „Stimmengewirr“ des Dorfes zu Wort kommen.

Yulia Marfutova hat in Berlin studiert

Die 1988 in Moskau geborene Autorin hat an der HU Berlin Germanistik und Geschichte studiert und lebt mittlerweile in Boston. Mit ihrer atmosphärischen Erzählweise findet sie ein gelungenes Stilmittel, um das Wissen der Nachgeborenen auf Distanz zu halten und es gleichwohl, in Form kondensierter Tröpfchen, einfließen zu lassen.

Denn das ist ja die große Frage: Wie sickert Geschichte in ein Gemeinwesen, in dem die Menschen Analphabeten sind und die „Elektrifizierung“ der Bolschewiki noch in weiter Ferne ist?

[Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 184 Seiten, 22 €.]

„Der Himmel vor hundert Jahren“ macht aus dieser Versuchsanordnung ein beseeltes Universum von klarer Sinnlichkeit. Der Fluss schwemmt Dinge an, die ihren Wert der Knappheit verdanken, Leinen, Eisen, Schnüre, Holz. In gewisser Weise ist auch er ein Medium, das Information transportiert, und sei es das Wissen über die besten Fanggründe.

Konflikt zwischen Aberglaube und Religion

Als schließlich in Gestalt der Revolutionäre Mitja und Kostja „die Realität“ Einzug ins Dorf hält, wird diese „Realität“ verblüffend schnell zum neuen Bezugssystem. Der Konflikt zwischen Pjotr und Ilja, zwischen Aberglaube und Religion auf der einen Seite und wissenschaftlichem Fortschritt auf der anderen, ist schnell entschieden. Im Nu verschwinden die Ikonen aus den Häusern.

Ähnlich wie die ebenfalls in Moskau geborene Katerina Poladjan erkundet Yulia Marfutova die Erzählräume der Gegenwart über den poetisch verdichteten Abstand zur ländlich geprägten Großelterngeneration. Im Impuls, Ideologien auf Distanz zu halten und Konflikte wie über einen Blitzableiter in die Landschaft abzuleiten, erinnert Marfutovas Roman an ein anderes Debüt: Callan Winks Roman „Big Sky Country“, eine Coming-of-Age-Geschichte rund um den Yellowstone River.

Der Himmel, die Landschaft, der Fluss sind die großen Joker einer Kunst des Zeichendeutens, bei der Meteorologie in literarische Atmosphärenkundigkeit übergeht. „Der Himmel vor hundert Jahren“ ist ein in seiner feinen Materialität rätselhaft starkes Romandebüt.

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