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Bilderbuchehepaar. Die Augenärztin Anna (Nicole Kidman) und der Herzchirurg Steven (Colin Farrell).

© Alamode Film

Yorgos Lanthimos' „The Killing of a Sacred Deer“: Am offenen Herzen

Kino der Grausamkeit: Yorgos Lanthimos’ blutiges Moralstück „The Killing of a Sacred Deer“ mit Nicole Kidman und Colin Farrell.

Von Andreas Busche

„Mein Beispiel ist eine Metapher“, erklärt der Junge dem Arzt mit ausdrucksloser Miene. Das Beispiel (oder die Metapher?) erweist sich als eines von der eher drastischen Sorte. Blutverschmiert blickt der Junge dem Mann ins Gesicht und spuckt ein Stück Fleisch aus, das er sich eben aus dem Unterarm gebissen hat. Um die begriffliche Verwirrung noch zu steigern, fährt er mit monotoner Stimme fort: „Ich meine, du musst das symbolisch verstehen.“

Das Exempel, das der Junge mit seinem sinnlosen Akt der Selbstverstümmelung statuiert, ist ein Blutopfer im klassischen Sinn. Zuvor hat er dem Mann eine nicht minder drastische Fleischwunde zugefügt, nun starren sie einander an, vereint in pochendem Schmerz. Der Junge sitzt mit Klebeband gefesselt auf einem Stuhl, doch als handlungsunfähig wird sich in diesem ungleichen Duell der Erwachsene erweisen, der sich mit einem unlösbaren moralischen Konflikt konfrontiert sieht.

Yorgos Lanthimos’ blutiges Moralstück „The Killing of a Sacred Deer“ wirkt in seiner Intention ähnlich unentschlossen wie der jugendliche Protagonist. Der griechische Regisseur hat sich mit „Dogtooth“, 2011 für den Oscar nominiert, und „Alpen“ im internationalen Arthousekino als kühler Konstrukteur von gesellschaftlichen Allegorien einen Namen gemacht. Sein letzter Film „Lobster“ hingegen war, wie schon der Titel suggeriert, eine Fabel – beziehungsweise ein modernes Bestiarium über eine dystopische Gesellschaft, in der Singles nach kurzer Schonzeit in ein Tier ihrer Wahl verwandelt werden.

Milde ist keine Eigenschaft, die Lanthimos' Kino auszeichnet

In „The Killing of a Sacred Deer“ kommen keine Tiere vor, der titelgebende Hirsch bezieht sich auf die griechische Mythologie und den Dichter Euripides. Dem Mythos nach tötete Agamemnon eine heilige Hirschkuh aus den Wäldern der Göttin Artemis, welche zur Besänftigung ein Opfer forderte, bevor der griechische Krieger sein Heer in die Schlacht gegen Troja führen konnte. Agamemnon bot seine Tochter Iphigenie zur Wiedergutmachung an. In der Version das Humanisten Euripides verschont Artemis Iphigenie.

Milde ist allerdings keine Eigenschaft, die das Kino von Yorgos Lanthimos auszeichnet. Wer mit dem filmischen Werk von Lanthimos und dem Iphigenie-Mythos vage vertraut ist – der Film selbst liefert einen indirekten Hinweis –, dürfte von der Wendung, auf die die Handlung erzählerisch aufwendig und bemüht geheimnisvoll zusteuert, kaum überrascht sein.

Die Ironie, dass Lanthimos sich in seiner ersten amerikanischen Produktion ausgerechnet auf die griechische Mythologie bezieht, ist hingegen durchaus zu spüren. Colin Farrell spielt Steven Murphy, einen weltberühmten Herzchirurgen mit Alkoholproblem, Nicole Kidman seine Frau Anna, eine ebenfalls respektierte Augenärztin. Das Bilderbuchehepaar lebt mit seinen zwei Kindern in der Suburbia einer nicht näher bezeichneten amerikanischen Metropole, ihren Sex peppen sie mit Rollenspielen auf, bei dem sich Steven vor seiner nackten wie leblosen Frau einen runterholt.

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Im Gegensatz zur surrealen Märchenwelt des Vorgängers „The Lobster“ ist „The Killing of a Sacred Deer“ in einer künstlich stilisierten Realität verankert. Die Interieurs sind so aufgeräumt wie die Einstellungen von Lanthimos’ langjährigem Kameramann Thimios Bakatakis. Ein schleichendes Unbehagen stellt sich erst im Detail ein, insbesondere die fast unmerklichen Kamerabewegungen erzeugen das permanente Gefühl einer immateriellen Präsenz im Raum.

Physisch unheimlich ist Barry Keoghan in der Rolle des Jungen Martin, mit dem Steven eine auf den ersten Blick fragwürdige Freundschaft pflegt. Die beiden treffen sich regelmäßig in einem Café, der Arzt macht dem Teenager teure Geschenke. Auch die banalen Alltagsdialoge, wie immer bei Lanthimos in einer mechanischen Sprache heruntergeleiert, erhellen nicht die Umstände ihrer Beziehung – dass der Tod von Martins Vater etwas damit zu tun hat, wird jedoch schnell klar. Martin ist ein Verführer. Erst wickelt er mit seinen vorbildlichen Manieren Anna um den Finger, dann macht er sich an die pubertierende Tochter Kim (Raffey Cassidy) ran.

Plötzlich gehört Martin zur Familie, sehr zu Stevens Missfallen, der gute Gründe hat, die Fixierung des Jungen abzulehnen. Keoghans undurchdringliche Gesichtszüge, sein zombiehafter Tonfall erzeugen eine emotionale Kälte, die seine äußerliche Arglosigkeit nie ganz überspielen kann. Von der Familie akzeptiert, beginnt Martins perfider Plan Wirkung zu zeigen. Als erst Bob (Sunny Suljic), der jüngere Sohn der Murphys, und kurz darauf Kim ohne äußeren Einfluss Lähmungserscheinungen zeigen, nimmt die griechische Tragödie ihren Lauf.

In Cannes wurde der Film kontrovers aufgenommen

Lanthimos hat sich schon in früheren Filmen als virtuoser Manipulator bewiesen, der sich auf den gut platzierten Schockeffekt versteht. In „The Killing of a Sacred Deer“ stehen ihm für seine Versuchsanordnungen erstmals die Schauwerte Hollywoods zur Verfügung. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum sich der Film zu häufig offensichtlicher Stilmittel bedient – von der klassischen Iphigenie-Referenz über disharmonische Streicher-Arpeggios auf der Tonspur bis zur demonstrativen Eröffnungssequenz einer Operation am offenen Herzen.

In Cannes wurde „The Killing of a Sacred Deer“ kontrovers aufgenommen: Lanthimos’ ungerührte Provokationen wirken nach fünf Filmen ein wenig kalkuliert. Der Operationssaal – im Englischen operating theatre, noch so ein sprechendes Bild – ist daher eine ganz treffende Metapher(!) für die Lanthimos-Methode. Seine Filme funktionieren wie Artauds Theater der Grausamkeit, viszeral, von chirurgischer Präzision, aber ultimativ herzlos.

Ab Donnerstag in den Kinos

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