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Wer mehrsprachig schreibt, ist im Vorteil. Die Schriftstellerin Yoko Tawada.

© Heike Steinweg/HKW

Yoko Tawadas Rede zum Internationalen Literaturpreis: Lust auf Haikuhmilch

Über die Poesie von Akzenten und Konsonanten und von Wörtern, die neu geboren werden: Yoko Tawadas Rede zum Internationalen Literaturpreis Berlin.

Ich möchte zuerst über eine spezifische Form der Kultur sprechen, nämlich die Joghurtkultur. Oder sollte ich besser mit dem Thema Milch anfangen, denn ohne Milch gäbe es keinen Joghurt. Die Mutter des Joghurts ist keine Muttermilch, sondern die Kuhmilch. Vor einigen Jahren las ich in einer deutschen Zeitung über ein Gebiet in Afrika, in dem eine Menschengruppe Epidemien überlebte, weil sie Kuhmilch als Nahrungsmittel akzeptiert hatte. Der Autor des Artikels schrieb, dass Milch an sich kein bekömmliches Nahrungsmittel für Erwachsene sei, denn die Natur schenke nur dem Säugling die Enzyme, die Laktose verarbeiten. Ein Kind, das weiter Muttermilch zu trinken versuche, müsse erbrechen. Der europäische Magen hat im Laufe der Zivilisation die Fähigkeit entwickelt, ein Leben lang Milch zu verdauen. Mit einem Wort: Europa trinkt Milch und erbricht nicht. Das war meine Definition von Europa bis vor kurzem.

Als ich in den sechziger Jahren in Tokio zur Grundschule ging, gab es Klassenkameraden, denen sofort übel wurde, wenn sie Milch tranken. Wir bekamen jeden Tag eine kleine Flasche Milch, zusammen mit dem Mittagessen. Unsere Lehrerin sagte, jeder gewöhne sich an Milch, man müsse Geduld haben. Ich weiß nicht, ob sie recht hatte. Denn selbst in Europa gibt es Menschen, die keine Laktose vertragen.

Joghurt nach Athen

Die europäische Kultur wurde ausschließlich aus Bulgarien nach Japan importiert, ich meine die Joghurtkultur. 1905 gelang es dem bulgarischen Wissenschaftler Stamen Grigorow, ein Bakterium zu isolieren, das für die Entstehung des Joghurts verantwortlich ist. Als ich in Sofia war, sah ich in einem Supermarkt die Joghurtmarken, die ich aus Deutschland kannte, ein ganzes Regal besetzen. Warum importieren die Bulgaren die teuren Produkte aus dem Ausland, wenn sie selber das weltberühmte Joghurtvolk sind? Der Joghurt war nicht mehr Joghurt, sondern eine globale Industrieware. Ich war entsetzt.

Eine Bekannte in New York kauft ausschließlich Joghurt aus Griechenland. Viele amerikanische Joghurtprodukte sind ihrer Meinung nach nichts anderes als chemische Schleimsuppe. Die Griechen sind für sie das Joghurtvolk. Aber eine Griechin, die ich letztes Jahr kennenlernte, offenbarte mir, es gebe keinen griechischen Joghurt mehr, es gebe nur noch europäischen Joghurt. So trägt man nicht nur die Eulen, sondern auch noch den Joghurt nach Athen.

Wortmilch, Prosamilch, Haikuhmilch

Der Joghurt ist ein Sauermilchprodukt, eine Art Dickmilch. Die Wörter „Sauermilch“ oder „Dickmilch“ werden selten verwendet, denn man soll heutzutage weder sauer noch dick sein. Man soll immer gute Laune haben und so dünn sein wie die Menschen auf jedem Werbefoto für Joghurt. Ich dachte, dieses Erfolgsrezept sei amerikanisch und in Europa dürfe man sauer sein – sauer auf die Zustände, sauer auf die politische Situation, sauer auf die Ungerechtigkeit. Denn das Sauersein bringt Nachhaltigkeit. Das Sauerkraut hält länger als der Kohl. Wenn ich Wörter wie Sauerkraut oder Sauerbraten höre, fließt mir Speichel im Mund zusammen – nicht weil ich diese Gerichte essen will, sondern, weil das Wort „sauer“ in meinen Magen hineinklingt.

„Joghurt“ ist ein Lehnwort aus dem Türkischen, und vielen Europäern ist nicht bewusst, wie oft sie sich etwas Türkisches auf die Zunge legen. Die Wörter „Sauermilch“ oder „Dickmilch“ sind noch nicht vergessen, während das Wort „Setzmilch“ kaum noch verwendet wird. Ich habe es in einem Wörterbuch gefunden und las zuerst „Satzmilch“. Als Folge entstanden im Sprachzentrum meines Gehirns Wörter wie Wortmilch, Sprachmilch, Prosamilch, Haikuhmilch, Nachlassmilch, Übersetzungsmilch. Es gibt auch Wörter, die neu geboren werden.

Wenn ich sauer bin und mein Kopf von neuen Wörtern anschwillt, setze ich mich an den Schreibtisch. Nachdem eine Autorin oder ein Autor die Schrift gestellt hat, setzt der Setzer die entsprechenden Buchstaben. Dabei benutzt er kein Setzbrett mehr, sondern ein Computerprogramm. Das Wort „Setzbrett“ wird sicher bald vergessen. Die Autorinnen und die Autoren setzen die Sätze, es klingt etwas streng, aber es geht nicht um eine Festlegung der flüssigen Ideen. Sie setzen die Sätze wie ein wildes Tier in der Setzzeit seine Nachkommen in die Welt setzt. Aus den gesetzten Sätzen soll kein Gesetz werden. Sie sollen besser wie Setzmilch in einen Gärungsprozess geraten.

Gefühle, die ihn Vokalen zu Hause sind

Ist die übersetzte Literatur vergleichbar mit einer Ausländerin, die mit Akzent spricht? Der Akzent ist das Gesicht der gesprochenen Sprache. Seine Augen glänzen wie der Baikalsee oder wie das Schwarze Meer oder wie ein anderes Wasser, je nachdem, wer spricht. Die Augen meiner Sprache enthalten Wasser aus dem Pazifik, in dem Vokale wie Inseln schwimmen. Ohne sie würde ich ertrinken. Die deutsche Sprache bietet mir nicht genug Vokale. „Lufthansa“ spreche ich „Lufutohansa“ aus, damit fast jeder Konsonant mit einem Vokal versorgt ist. Wo soll ich sonst hin mit meinen Gefühlen, die nur in den Vokalen zu Hause sind?

Wie würde die Welt aussehen, wenn es nur Konsonanten gäbe? Sprechen Sie einfach „k“ oder „g“ aus, und achten Sie darauf, wie sie auf Ihren Körper wirken! Sie klingen für mich nach Ablehnung, Abgrenzung oder einer leise gesprochenen Ausrede. Auch die explosiven Konsonanten „p“ und „b“ bereiten mir Kopfschmerzen. Sie klingen verärgert, verachtend und abweisend. Ich ziehe es vor, beim Aussprechen dieser Konsonanten die Luft nach innen zu ziehen, damit sie nicht zu heftig explodieren.

Jede Abweichung als Chance für die Poesie.

Es gibt auch sanftere Konsonanten. Das heißt aber nicht, dass ich sie ohne meinen Akzent aussprechen könnte. Die Konsonanten „r“ und „l“ zum Beispiel bringe ich durcheinander. Sie sind für mich eineiige Zwillingsschwestern. Hier einige Übungen für einen besseren Umgang mit ihrer Verwechselbarkeit: „Durch das lustvolle Wandern in der Natur wandelt Herr Müller seine Gesinnung.“ Oder: „Der Rücken eines Ponys ist niedrig und deshalb niedlich. Wäre er doppelt so hoch, wäre er halb so niedlich.“ Oder so: „Kein Bücherregal ist illegal, egal welche Bücher da stehen, genauso wie kein Mensch illegal ist, selbst wenn er mit einem Akzent spricht.“

Der Akzent bringt unerwartet zwei Wörter zusammen, die normalerweise nicht ähnlich klingen. In meinem Akzent hören sich „Zelle“ und „Seele“ ähnlich an. Es ist nicht meine Aufgabe, eine regionale Färbung, einen ausländischen Akzent, einen Soziolekt und einen Sprachfehler medizinischer Art voneinander zu unterscheiden. Stattdessen schlage ich vor, jede Abweichung als Chance für die Poesie wahrzunehmen. Es kommt mir komisch vor, dass ich von einer „Abweichung“ spreche, denn ich bin nicht sicher, ob es überhaupt den „Standard“ gibt. Im Sprachunterricht habe ich gelernt, dass das reinste Hochdeutsch in Hannover zu finden sei, und zwar auf einer Theaterbühne.

Der Akzent lädt zum Reisen ein

Aber es gibt keinen Menschen, der in einem Theater in Hannover geboren wurde und nie das Theatergebäude verlassen hat. Also gibt es keinen Menschen ohne Akzent, so wie es keinen Menschen ohne Falten im Gesicht gibt.

Der Akzent ist eine großzügige Einladung zu einer Reise in die geografische und kulturelle Ferne. In einer modernen Großstadt muss man stets darauf gefasst sein, mitten in der Mittagspause auf eine Weltreise geschickt zu werden. Eine Kellnerin öffnet ihren Mund, schon bin ich unterwegs nach Moskau, nach Paris oder nach Istanbul. Die Mundhöhle der Kellnerin ist der Nachthimmel, darunter liegt ihre Zunge, die den eurasischen Kontinent verkörpert. Ihr Atemzug ist der Orientexpress. Ich steige ein. Der Akzent gibt den Menschen auch Mut, denn er ist ein lebender Beweis dafür, dass auch ein Erwachsener noch eine exotische Sprache lernen kann. Hätte er sie schon als kleines Kind gelernt, hätte er keinen Akzent. Auch im hohen Alter können wir unseren Gaumen erweitern, uns neue fiktive Zähne wachsen lassen, die Muskeln des Mundwerks trainieren, mehr Speichel produzieren und unsere Gehirnzellen durchlüften.

"Nicht ganz dicht" zu sein, hat Vorteile

Wer keinen Akzent hat und nicht fremd aussieht, aber aus der Ferne kommt, hat es schwer. Die Tochter meiner deutschen Bekannten zum Beispiel, die in den USA geboren und aufgewachsen ist, hatte Angst, in Deutschland zum Postamt zu gehen. Denn sie hat gar keinen Akzent, wenn sie Deutsch spricht, aber sie versteht nur noch Bahnhof, wenn der Postangestellte von „Einschreiben“, „Nachnahme“ oder „unfrei“ spricht. Hätte sie einen Akzent, würde man ihr verständnisvoll in Ruhe diese Wörter erklären. Aber sie hat leider gar keinen Akzent. Sie sagte mir, man würde denken, sie sei nicht ganz „dicht“.

Es kann für mehrsprachige Dichterinnen und Dichter ein Vorteil sein, wenn die Wände in ihrem Gehirn „nicht ganz dicht“ sind. Durch die undichte Wand sickert der Klang einer Sprache in eine andere hinein und erzeugt eine neue Musik. Man spricht heutzutage vom „Migrationshintergrund“, als wäre etwas Abgründiges grundsätzlich hinter dem Rücken versteckt. Der Akzent ist der Vordergrund der Migration.

Yoko Tawada, 1960 in Tokio geboren, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Sie schreibt auf Deutsch und Japanisch. Im Tübinger Konkursbuch Verlag erschien zuletzt ihr Roman „Etüden im Schnee“. Eine erweiterte Form dieses Texts hielt sie am gestrigen Donnerstag als Festrede zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises/Haus der Kulturen der Welt an den Haitianer Dany Laferrière.

Yoko Tawada

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