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Protest gegen den Irakkrieg (2006). Mit 4000 gestrickten und gehäkelten Läppchen aus aller Welt, gesammelt von der dänischen Künstlerin Marianne Jørgensen.

© Barbara Katzin/Edition Converso

Wütende Omas, häkelnde Samurais: Warum wir Menschen seit vielen Jahrhunderten stricken

Katarina Schiná erzählt in „Die Nadeln des Aufstands“ eine faszinierende Kulturgeschichte der Handarbeit.

Admiral Nelson tat es. Die Französischen Revolutionärinnen taten es. Romanfiguren tun es. Samurai taten es. Künstler:innen tun es. Ja, wer hat eigentlich nicht gestrickt, fragt man sich bei der Lektüre dieses Buches. Sollte man womöglich selbst beginnen?

Aber nein. Was ist das Stricken gegen das Lesen übers Stricken!

In den 60er Jahren gab es einen Trick, faule Mädchen an die Nadel zu bringen: das Wunderknäuel. In dem verbargen sich kleine Geschenke, die zum Vorschein kamen, wenn der Faden aufgerollt wurde. Auch Schinás Buch hat etwas von einem solchen Wunderknäuel. Während sie ihr Thema wie einen langen bunten Faden aufrollt, kommen lauter Überraschungen zum Vorschein. Ihre ganz eigene „Kulturgeschichte des Strickens“ entpuppt sich als Füllhorn von autobiografischen Geschichten, historischen Episoden, Literatur, Kunstwerken, Politik, Genderfragen.

Die größte Überraschung ist erstmal, dass – und wie – die Griechin das Stricken vom Image des Trutschigen befreit. Man kann sich die Reaktionen vorstellen, als sie erzählt hat, sie würde ein Buch über das Stricken schreiben. Oh Gott, Handarbeit. Wie bieder!

Von wegen. Verblüffend ist die subversive, auch revolutionäre Kraft, die Katerina Schiná im Stricken entdeckt. Ausgerechnet die Handarbeit, mit der Mädchen und Frauen in die brave, dienende Ecke gedrängt wurden, hat viele Aktivist:innen hervorgebracht. Gruppen wie die „Revolutionären Strickzirkel“ und die „Wütenden Omas“, Anführerinnen wie die Künstlerin Marianne Jørgensen. Die Dänin organisierte einen ausgedienten Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg, den sie mit einer rosa Decke umhüllte, zusammengesetzt aus 4000 gestrickten und gehäkelten Läppchen. Die hatten Strickerinnen aus Dänemark, England und Amerika der Künstlerin auf einen Aufruf hin geschickt hatten. Ein Protest gegen die Beteiligung am Irakkrieg.

Das Persönliche ist immer politisch

Das heißt nicht, dass Stricken per se pazifistisch ist. Dient die weiche, noch dazu rosa Umhüllung hier quasi der Entwaffnung – in anderen Fällen auch der Aufweichung männlicher Superhelden – wurde das Stricken fürs Vaterland zu anderen Zeiten als kriegsfördernde Maßnahme angeordnet. Die Soldaten sollten doch nicht frieren.

Wäre das Buch ein Pullover – und die scheint Schiná selber am liebsten zu stricken –, so ist es einer mit raffiniertem Muster. Hin und her und kreuz und quer. Dabei hält die Autorin, genau wie Ariadne, eine der vielen mythischen Gestalten, die sie beschwört, den Faden immer in der Hand.

[Katerina Schiná: Die Nadeln des Aufstands. Eine Kulturgeschichte des Strickens. Aus dem Griechischen und hrsg. von Doris Wille. Edition Converso, Bad Herrenalb 2021. 216 Seiten, 28€]

Eins rechts, eins links, so einfach ist das nie bei ihr. Schiná spießt – immer mit Witz und feiner (Selbst-)Ironie – politische Vereinnahmungen und Abneigungen beider Seiten auf. So kriegt die offenbar sehr muskulös-maskuline Kommunistische Partei Griechenlands ebenso ihr Fett ab wie die New Ager und ideologisierten Ökos.

Auch das Persönliche ist bei ihr immer politisch. „Die Nadeln des Aufstands“ – der Titel des Buchs ist Programm. Schiná geht es um Rollenbilder, um Identität, weibliche Selbstbehauptung. Einen Raum für sich selbst. Das macht sie gleich in ihrem hinreißenden Auftakt deutlich. Das wilde Stricken war für die 1956 Geborene eine Abgrenzung von der Mutter, der das erstens zu langweilig und zweitens zu nützlich war. Die Tochter trieb es weiter mit Leidenschaft, auch als linke Feministin, zu einer Zeit, da das unter ihresgleichen zutiefst verpönt war.

Die besten Passagen sind die persönlichen Geschichten

So gut Schiná ihren Heraklit und Sartre kennt, so gewandt sie sich durch die Mythologie und den Strukturalismus, die Literaturgeschichte und Kunsthistorie bewegt – die poetischsten Passagen des Buches sind die persönlichen. Atmosphärisch dicht etwa jene Szene auf dem Friedhof, wohin die Großmutter die kleine Katerina regelmäßig schleppt und wo diese Anarchia begegnet, der alten Frau, mit der sie ihren ersten Lappen strickt. Herrlich das Kapitel, das sie dem Pullover für ihren damaligen Liebsten widmet, als dieser nach Paris ging.

Gedacht als Faden-Bindung nahm das missratene Stück das Ende der Beziehung vorweg. „Ein unförmiges Machwerk, das nach allen Seiten ausuferte und aussah, als würde es sich vermehren wie ein seltsamer Wasserorganismus. Der Pullover ließ sich unmöglich zusammenlegen, passte in keine Tasche, in keinen Rucksack. Kaum stopfte ich ihn auf der einen Seite rein, schon kroch er auf der anderen widerspenstig wieder heraus.“ Der Liebste hat keinen Platz dafür.

Ein paar Götter und Gelehrte, künstlerische und historische Beispiele weniger hätten dem Buch, ausgezeichnet mit dem Griechischen Staatspreis für Essay und Sachbuch, das auch auf der deutschen Sachbuch-Bestenliste stand, ganz gut getan. Schiná referiert viel, dabei schreibt sie so schön.

Stricken als eine Form des Reisens

Eine eklatante Lücke gibt es allerdings auch. Unter den zahlreichen Künstler:innen, die im Buch auftauchen, fehlt ausgerechnet Rosemarie Trockel, die mit ihren Strickbildern berühmt wurde und heute zu den international gefeiertsten und einflussreichsten Künstlerinnen zählt. Dabei verbindet die beiden allein der Humor. „Leben heißt Strumpfhosen stricken“ heißt eine von Trockels Arbeiten. Vielleicht liegt es daran, dass Schiná sich in der englischsprachigen Welt besser auskennt. Sie, die auch als Kulturjournalistin, Klavierlehrerin und Dozentin gearbeitet und Kinderbücher sowie Essays geschrieben hat, ist vor allem als Übersetzerin bekannt. Und sie nimmt ihre Leser:innen auf eine regelrechte Weltreise mit.

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Auch das Stricken selbst beschreibt sie am Ende als eine Form des Reisens. Die Konzentration auf den Vorgang und die Veränderung, die Verwandlung des Ausgangsmaterial zu etwas anderem mache es dazu. Es ist eine Reise durch die verschiedenen Zeiten, auch ihres eigenen Lebens.

Die Konstanze ist die Handarbeit. Auch das feine cremefarbene Papier des Buches fasst man so gern an wie die reliefartigen rosa Buchstaben auf dem Titel. Darum geht es letztlich: das Be-greifen. „Was ich höre, das vergesse ich / Was ich sehe, das behalte ich / Was ich berühre, das verstehe ich“: Dieses Zitat von Konfuzius hat die Autorin als Motto an den Anfang gestellt. Das Stricken, das zeigt sie aufs Amüsanteste, ist nicht die schlechteste Art, den Kopf in Gang zu bringen.

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