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Außenseiter. Die Kinder im Dorf hänseln Qodrat (Qodratollah Qadiri).

© Kairos

„Wolf and Sheep“ im Kino: Alltagsmythen aus Afghanistan

In „Wolf and Sheep“ streifen ein Junge und ein Mädchen streifen gemeinsam durch die karge Berglandschaft Afghanistans- und widersetzen sich damit den gesellschaftlichen Regeln.

„Du bist so winzig, du könntest wie eine Nuss den Hügel runterrollen.“ – „Du siehst aus wie eine Katze mit deinen blonden Haaren.“ – „Und dein Haar hat die Farbe von Scheiße.“ Wenn sich die jungen Söhne der Schäfer gegenseitig mit ihren Beleidigungen überbieten, kommt hinter all den Gemeinheiten mitunter auch ein kreativer Witz zum Vorschein.

Landschaft und Sprache verhalten sich in „Wolf and Sheep“ asymmetrisch. Karg, trocken und staubig ist die Bergregion in Afghanistan, üppig und ausgeschmückt sind die Geschichten, die sich die Menschen hier erzählen: Mythen, Alltagstratsch, Fabuliertes. Als am Anfang des Films ein Mann stirbt und es darum geht, seine Schwiegertochter in einer „weit entfernten Stadt“ zu benachrichtigen, sagt eine Dorfbewohnerin, es würde ein Jahr dauern, diese zu erreichen. Eine andere nimmt den Erzählfaden auf und schon steht eine Geschichte über einen Boten im Raum, der niemals ankommen kann.

Inspiriert von ihrer eigenen Jugend sowie den Tagebuchaufzeichnungen ihres Regieassistenten und Szenenbildners Anwar Hashimi erzählt die afghanische Filmemacherin Shahrbanoo Sadat in ihrem Spielfilmdebüt vom Leben der Gemeinschaft der ethnischen Minderheit der Hazara. Sadat, die 1990 als Tochter von Flüchtlingen in Iran geboren wurde und noch im Kindesalter in ein isoliertes Dorf in Zentralafghanistan umsiedelte, stellt eine Gruppe von etwa 11-bis 12-jährigen Kindern ins Zentrum; ein besonderer Stellenwert kommt der Geschlechtertrennung zu. Mädchen, Jungen, Frauen und Männer leben in separaten Milieus: Während die Frauen kochen und Dung trocknen, sind die Männer mit Viehzucht und dem Schlachten beschäftigt. Und während die Mädchen die Schafe hüten, üben die Jungen mit ihren selbstgebastelten Steinschleudern und prahlen mit ihren angeblichen erotischen Erfahrungen: „Wenn sie dich gebissen hat, gehört sie dir.“

Freiräume findet der Film in den Kinderdarstellern

In dem anfangs nicht ganz leicht zu entwirrenden Figurenensemble konturieren sich bald zwei Außenseiter heraus. Qodrat (Qodratollah Qadiri) wird von den anderen gehänselt, weil seine gerade verwitwete Mutter mit einem alten Mann verheiratet werden soll. Sediqa (Sediga Rasuli) wird nachgesagt, dass sie das Böse in sich trage, nachdem ihre Großmutter eine halb erfrorene Schlange in ihrem Haus aufnahm. Sediga und Qodrat streifen wider die gesellschaftlichen Regeln zusammen durch die Gegend. Er zeigt ihr, wie man eine Steinschleuder baut.

„Wolf and Sheep“ ist einem rohen naturalistischen Stil verpflichtet, der punktuell mit surrealen Momenten aufgebrochen wird. Der Mythos des Kaschmir-Wolfs, der sich nachts durch den Kamin Zutritt verschaffen und Schafe reißen soll (unter seinem Fell, heißt es, verberge sich die Gestalt einer grünen, nackten Fee) nimmt im Film einen eigenen Raum ein. Das Zusammenspiel blaustichiger Nachtbilder, heulender Sounds und schwer zu klassifizierender Wesen erinnert dabei entfernt an die hypnotische Metaphysik des thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul.

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In seiner Grundstruktur steht der Film jedoch fest auf dem Fundament der Wirklichkeit. Der harte Dorfalltag, der weit entfernt scheint von der Realität des Bürgerkriegs, wird ohne romantisierendes Sentiment geschildert. Seine Freiräume findet der Film in den Kinderdarstellern und ihren Spielen. So liegt das Interesse der Handkamera meist auf ihren tollen, verwitterten Gesichtern, die trotz der vorgezeichneten Lebenswege Kraft und Autonomie entfalten. Ihre Geschlechterrollen üben sie auf mitunter parodistische Weise ein, etwa im Rollenspiel „Meine Tochter soll deinen Sohn heiraten“. Mit unterdrücktem Kichern diktiert eines der Mädchen die Bedingungen der Eheschließung: „Du musst mein Wohnzimmer und meinen Flur zehn Mal wischen. Zehn Mal meinen Schaf-, Kuh- und Eselstall.“ Die „Braut“ steigt auf den Esel und fällt unter allgemeinem Gelächter prompt wie ein nasser Sack herunter – eine arrangierte Ehe mit comic relief.

In den Kinos Acud und Wolf

Esther Buss

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