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Traum von der Antike. Ruinen des Apollo- Tempels in Syrakus. Die sizilianische Hafenstadt war einst eine Metropole der griechischen Kultur.

© picture alliance / dpa-tmn

„Wohin mit den Augen“ von Joachim Sartorius: Das Licht und die Tiere des Südens

Joachim Sartorius feiert in seinem neuen Gedichtband das Glück des Moments.

Als der poetische Vagabund Johann Gottfried Seume 1802 nach neun Monaten einer entbehrungsreichen Wanderung sein Ziel, die antike Ruinenstadt Syrakus und die mit ihr verbundene Insel Ortigia erreichte, zeigte er sich verzaubert von den „sonderbaren Erscheinungen“ an der berühmten Quelle der Nymphe Arethusa: „Diese Quelle ist, wenn man auch mit keiner Silbe an die alte Fabel denkt, bis heute eine der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht gibt.“

Gut zweihundert Jahre nach Seumes Beobachtung wacht der Dichter Joachim Sartorius an diesem mythischen Schauplatz in Ortigia auf und erlebt in ähnlicher Intensität an der Quelle der Arethusa eine naturmystische Transformation: „Die Nacht wäscht das Meer. / Am Morgen ist das Wasser neu./ Auf der Netzhaut wird Licht/ mit Gischt bezahlt.“ Mit wenigen Strichen entwirft Sartorius hier im Eröffnungsgedicht seiner neuen Lyriksammlung „Wohin mit den Augen“ sein poetisches Programm.

Es ist eine Beobachtungsemphase, die ganz auf die visuelle Wahrnehmung und das Geöffnetsein der Sinne vertraut, auf das intensive Exerzitium des Sehens. Der Dichter ist hier Augenzeuge und Empfänger von Bewusstseinsreizen, die im Gedicht zu Existenzchiffren gefügt werden. Der poetische Augenblick erlaubt es, die Fülle der flüchtigen Erscheinungen zu ordnen und der verstreichenden Zeit für einen Moment Dauer zu verleihen.

Der geografische Ankerpunkt, an dem sich diese Verwandlungen vollziehen, ist für den Berliner Autor, Übersetzer und Kulturmanager seit einigen Jahren die Altstadt von Ortigia, wo er eine Wohnung besitzt und seine Sinne schärft für neue Expeditionen in den östlichen Mittelmeerraum, seiner Sehnsuchtslandschaft.

Das Licht des Südens an den Kreuzungspunkten der Levante, wo sich die Kulturen überlagern, ist seit je das Lebenselixier des Joachim Sartorius. 1946 in Tunis geboren, wo er als Sohn eines Diplomaten seine Kindheit verbrachte, ist er den Strömungslinien des mare nostrum auf vielen Reisen nach Istanbul, Alexandria, Nikosia, Trapani oder Agrigent gefolgt und hat dabei immer wieder berückende Epiphanien gesammelt.

Sartorius bringt Landschaften zum Leuchten

Als poetisches Wappentier, das in einem eigenen Zyklus besungen wird, fungiert im neuen Gedichtband die kalkweiße Van-Katze, eine äußerst seltene Katzenart aus dem Osten der Türkei, die in ihrer Anmut und stolzen Unnahbarkeit durchaus Ähnlichkeiten mit dem eigensinnigen Blick eines Dichters hat.

Auf seinen Streifzügen durch die mediterrane Welt bringt Sartorius, der an diesem Freitag seinen 75. Geburtstag feiert, die mythengesättigten Orte und Landschaften zum Leuchten. Immer wieder bündelt sich die Strahlung dieser Gedichte in der schimmernden Präsenz von Farbwerten: „Hellrot und dunkelrot, weiß und weißgelb: / Unter den Oleandern der Viale delle Sirene/ macht das Musengelichter einen irr. / Die Elster seh ich schwarz inmitten der Orangen, / um einen Echsenschwanz gewickelt den Poeten. / Der weiß nicht ein und doch aus…“

[Joachim Sartorius: „Wohin mit den Augen“. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 76 Seiten, 18 Euro]

Die Intensität dieser Farbeindrücke korrespondiert mit den vom Meeresblau getragenen Bildern des französischen Lichtmalers Nicolas de Staël, dem Sartorius in seinem neuen Buch einige Hommagen gewidmet hat.

Joachim Sartorius.
Joachim Sartorius.

© picture-alliance/ dpa

Unter den fünf Kapiteln des Bandes begeistert vor allem die letzte Abteilung „Tiere des Südens“ durch die große Konzentration und Eindringlichkeit, mit der hier die Erfahrungen des Älterwerdens und der Sterblichkeit festgehalten sind. Das „lange Glück, / am Leben zu sein“ verbindet sich mit der Einsicht in die eigenen Begrenzungen. Als poetischer Repräsentant dieser Sterblichkeits-Gewissheit taucht August von Platen auf, der Virtuose des Sonetts und des Ghasels, der 1835 auf der Flucht vor der Cholera in Syrakus starb.

Sartorius wurde 2019 mit dem Platen-Preis ausgezeichnet. In einer Rede über die Zeit, die er 2017 im Lyrik-Kabinett in München hielt, hat Sartorius das Gedicht als einen Erinnerungsspeicher beschrieben, in dem Gegenwart und Vergangenheit, nahe wie ferne Orte miteinander korrespondieren. Das Gedicht, sagt Sartorius, will „als Stele überdauern, über der Asche eines mehr oder minder langen Lebensaugenblicks“. In „Wohin mit den Augen“ ist diese Arbeit an der vorübergehenden Aufhebung der Zeit zum Produktionsprinzip geworden.

Der Dichter imaginiert das „Kobaltweiß“ des Himmels und erwartet den erfüllten Augenblick in den Ekstasen des Lichts und des reinen Klangs: „Ich sage der Zeit: Was noch? / Wirklich weiter so? Ein Fastnichts/ die Erinnerung, eine Ankunft/ im Abschied: Musik. // So tönen. So ein Schönes./ Tönt’s? Tschilpt’s?/ Sommerviel:/ Wir versuchen zu pfeifen,/ zu singen. Dem Vogel nach./ Es tropft Licht, Messiaen.“

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